Traeum weiter, Mann
einfühlsamen Worten dar, wie Friederike an ihre Adoption denkt. Das Trauma ihres Lebens. Und nun trifft sie in einem Haus hinter dem Deich das erste Mal ihren Vater, was eine Riesenenttäuschung wird. Gerald schließt die Augen, was so aussehen soll, als sollte das den Hörgenuss noch steigern. Er merkt gar nicht, wie er mit der sonoren Stimme seines Feindes im Ohr langsam wegdämmert.
17
Neben der Spur
Ein neuer Morgen, ein neuer Tag.
Sie wusste, dass dieser Tag voller strahlender Möglichkeiten war, Chancen, die sie mit offenen Armen umfingen. Ein neues Leben wartete auf sie und vor allem:
eine neue Liebe. So stark, so bedingungslos, dass es ihr Herz zu zerreißen drohte.
Sie atmete tief durch, spürte, wie die frische, kühle Morgenluft durch ihren Körper strömte. Ihr Geist, ihr ganzes Sein öffnete sich wie eine Blume unter den ersten Strahlen der hellen Sonne.
Eine Nachtigall begann zu singen, und ihr Gesang hob sie empor, trug sie wie einen schillernden Engel hinauf in die Wolken, in den blauen Himmel, wo es keine Grenzen mehr gab, nur die endlose Weite.
Was würde die Zukunft bringen?
Sie wusste es nicht.
Sicher Schmerzen, Verzweiflung, Einsamkeit und Trauer.
Aber auch Licht, neue Versprechen, Freundschaft, Liebe und Glück.
Friederike wusste, dass sie nur noch ein paar Monate zu leben hatte. Aber jetzt wusste sie endlich, wer sie war und woher sie kam. Und wohin auch immer sie gehen würde, sie würde nie wieder alleine sein.
Nie wieder. Heiner lässt die beiden letzten Worte ganz leise ausklingen, er flüstert fast mit seiner warmen Bass-Stimme.
Dann legt er die letzte Seite seiner Geschichte in die Mappe zurück und nippt mit feierlicher Miene an dem Earl Grey. Der ist mittlerweile kalt, aber Heiners Mund ist vom vielen Lesen ganz trocken.
In Olgas Wohnzimmer ist es so still, dass man hören kann, wie sich die Gardine im Wind bewegt. Heiner schaut aus dem Fenster nach draußen. Am Himmel sammeln sich dunkle, schwarze Wolken. Bestimmt wird es bald regnen.
Die Frau mit den schwarzen Locken wischt sich leise schluchzend ein paar Tränen aus den Augen. Als er zu ihr hinüberschaut, wirft sie ihm ein verschämtes Lächeln zu.
Heiner lächelt sanft zurück. Er versucht, sich an ihren Namen zu erinnern, aber er will ihm einfach nicht einfallen. Zahlen bleiben ihm viel leichter im Kopf, aber Namen? Ingrid, Karla ... egal.
Unter ihrer weiten Bluse glaubt er gewaltige Brüste zu erkennen. Verrückt, denkt er versonnen, was ihre direkte Sitznachbarin Henrike zu wenig hat, hat sie zuviel.
Anders als Steff, bei ihr ist alles perfekt. Auch sie scheint immer noch gefangen in der Geschichte, ihre Augen sind gerötet, sie hat ebenfalls ein wenig geweint. Ja, denkt Heiner, die Macht der Worte ist gewaltig.
Ein lautes Schnarchen holt ihn aus seinen blumigen Träumen.
Schöning.
Es ist nicht zu fassen, er ist eingeschlafen, während Heiner gelesen hat.
Mit geschlossenen Augen liegt er im Sessel. Seine Arme hängen schlapp über die Lehne, die Beine sind angewinkelt. Er wirkt genauso leblos wie eine von Olgas lächerlichen Marionetten. Sein Kopf ist ihm auf die Brust gesackt, und aus dem offenen Mund fließt ein feiner Speichelfaden auf sein Designer-T-Shirt.
Heiner schüttelt angewidert den Kopf. Was für ein erbärmlicher Anblick! Eine Einschätzung, die er mit den anwesenden Damen teilt. Nur Steff lächelt verschämt, so als ob sie für diesen traurigen Auftritt verantwortlich wäre.
Er muss zugeben, Schönings plötzliches Auftauchen hat ihn am Anfang schon ein wenig aus dem Konzept gebracht. Erst hat ihn der brutale Kerl im Garten fast zusammengeschlagen. Und dann konnte der hohle Klotz auch noch ein Gedicht aufsagen. Sehr verwirrend.
Für einen Moment fällt es Heiner richtig schwer, die Konzentration wiederzufinden und in seine Geschichte hineinzukommen. Aber – seiner Stimme sei dank – schon nach ein paar Sätzen hat er die Runde wieder im Griff.
Aber wie soll es jetzt weitergehen?
Steff nimmt ihm die Entscheidung ab und schüttelt Schöning sanft – viel zu sanft, findet Heiner – wach. Mit einem verwirrten Seufzer schlägt Schöning die Augen auf und sieht sich um. Verlegen schaut er in die abweisenden Mienen der Frauen. Heiner lächelt zufrieden, hier wird Schöning keine Punkte mehr sammeln.
Es folgt eine kurze Fragerunde, denn natürlich wollen die Damen die Gelegenheit nutzen, mit ihm, dem Künstler, zu reden und Fragen zu stellen.
Wie sind Sie auf diese wundervolle
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