Traeume doch einfach weiter
Jemima
reichte ihr eine in blaues Leder gebundene Mappe.
Blair schlug die
Mappe auf. Im Inneren lagen ihre schwarze AmEx-Karte, eine Rechnung und ein
Kugelschreiber, mit dem sie auf der gepunkteten Linie unterschrieb, ohne
einen Blick auf den Betrag zu werfen.
»Wunderbar,
danke. Ich habe Ihre Einkäufe bereits einpacken lassen. Sie werden dann in
Kürze ins Claridge's geliefert. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Soll
ich Ihnen vielleicht ein Taxi rufen?«
»Nicht nötig,
danke.« Blair lächelte huldvoll. »Ich glaube, ich gehe zu Fuß.«
Sie hatte eine
Stunde lang bequem in einem Separee einer neuen Schuhboutique namens Kid in
West London gesessen und Jemima, eine hübsche Brünette mit grauenhaften Zähnen,
jedes Paar Stiefel anschleppen lassen, das der Laden auf Lager hatte. In der
Zeit, in der sie zwanzig Paar Stiefel anprobiert hatte, hatte sie zwei Tassen
Tee getrunken, die neueste Ausgabe der französischen Vogue durchgeblättert
und Lord Marcus angerufen. Genauer, seine Mailbox. Wo steckte er nur? War er im
Büro in einer Besprechung oder mit Camilla unterwegs, um neue Krocketschläger
zu kaufen, oder...
Oder was?
Aber so schnell
gab Blair nicht auf. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich nach dem gestrigen
Tag nicht die Laune vermiesen zu lassen. Vielleicht mussten Marcus und Camilla
ihr merkwürdiges Verwandtschaftsverhältnis einfach noch ein bisschen ausleben.
Sie würden sich bestimmt bald miteinander langweilen. Außerdem würde Marcus
ganz schnell vergessen, dass es Camilla überhaupt gab, sobald er sie in ihren
neuen Stiefeln aus schwarzem Pythonleder, ihrer neuen schwarzen Spitzenkorsage
von Gossard und den dazu passenden Pantys sah, die sie ihm heute Abend als
Zwischengang ihres beim Zimmerservice georderten
Champagner-und-Schokolade-Dinners in einer privaten Modeschau präsentieren
würde.
Sie steckte die
Kreditkarte in ihr neues Portemonnaie von Smythson und ließ es in ihre nur in
limitierter Auflage erhältliche handbemalte Goyard-Tasche fallen, die sie sich
gestern geholt hatte. Dann verließ sie das Geschäft und trat auf die stille
Press Street hinaus.
Sie war vorher
erst einmal in London gewesen. Damals noch in Begleitung ihrer Eltern, weil sie
erst zwölf gewesen war. Sie hatten im Langham Hotel in der Nähe der Regent
Street gewohnt, Big Ben und den Buckingham Palace besichtigt, die Kronjuwelen
und die Wachablösung angeschaut, Tee getrunken und Scones gegessen. Soweit sie
sich erinnern konnte, hatte sie die meiste Zeit damit verbracht, sich auf ihrem
damals revolutionär neuen iPod das neueste Madonna-Album anzuhören. Aber damals
war sie als Touristin in London gewesen, jetzt wohnte sie hier, und das war
etwas ganz anderes.
Alle Welt
behauptete immer, London sei grau, der Himmel sei ständig bedeckt, es herrsche
Dauersmog, und alles sei überhaupt ganz schrecklich deprimierend, dabei hatten
sie die ganze Woche lang blauen Himmel und Sonnenschein gehabt, die Bäume
waren dicht belaubt, alle paar hundert Meter stand man plötzlich in einem
grünen Park, und die Gebäude waren alle prächtig und herrschaftlich. Es wurde
auch immer gesagt, die Engländer seien so reserviert, hätten schlechte Zähne
und einen merkwürdigen Akzent - okay, die schlechten Zähne und der Akzent
waren wirklich gewöhnungsbedürftig, aber bis jetzt war jeder, mit dem Blair es
zu tun gehabt hatte, ausnehmend freundlich zu ihr gewesen.
Was vielleicht
auch daran lag, dass sie es bisher hauptsächlich mit Verkäuferinnen zu tun
gehabt hatte, die auf Provisionsbasis arbeiteten.
Blair warf rasch einen
Blick auf ihr Handy: keine neue SMS. Sie steckte es wieder in die Tasche
zurück. Natürlich kümmerte sich ein wahrer Gentleman besonders fürsorglich um
seine Gäste - für die englische Oberschicht waren Familienbande nun mal sehr
wichtig -, und Camilla war im Grunde genommen reizend. Doch, war sie wirklich.
Sie konnte ja nichts dafür, dass sie aussah wie ein blonder Car-
toon-Freakwurm. Blair hatte vollstes Verständnis. Hatte sie tatsächlich. Aber
sie fand auch, dass es allmählich Zeit wurde, ihre Affäre ein wenig
aufzupeppen. Je länger Lord Marcus sie auf die Folter spannte, desto
kribbeliger wurde sie. Vielleicht war das alles nur ein Trick von ihm, um ihre
Leidenschaft anzuheizen?
Hm, vielleicht.
Sie schlenderte
in die ungefähre Richtung ihres Hotels und fühlte sich dabei wie eine Kreuzung
zwischen Julia Roberts in »Pretty Woman« - in der Szene, in der sie mit ihrem
riesigen schwarzen
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