Traeume ernten
wer das ganze Jahr hier ist, steht über dem Gelegenheitsbewohner. Und natürlich übertrifft es alles, wenn man das ganze Jahr hier lebt und selber Wein herstellt. Kinder auf einer französischen Schule bringen auch eine Menge Bonuspunkte. »How interesting« , sagt der Mann, der sich jetzt ohne jede Gegenwehr von seiner Frau mitziehen lässt.
Ich starre vor mich hin, stelle mir Pierre vor, etwas weiter vorne in der Reihe â er schaut mir in die Augen, er lacht. Schnell merke ich, wie ich unbewusst zu lächeln begonnen habe. Jetzt steht Pierre hinter mir, ich fühle die Wärme seines Körpers. Bevor ich auf noch heftigere pubertäre Gedanken verfallen kann, öffnet sich die Schleuse vor mir. Während des gesamten Fluges schaue ich aus dem Fenster, ich lese nicht â zu viele Gedanken spuken mir im Kopf herum.
Auf dem Flughafen London Stansted laviere ich mühelos durch die Massen zu den Zügen. Noch bin ich mir des riesigen Fehlers, den ich gerade begehe, nicht bewusst, betrachte ich mich selber mit selbstgefälliger Zufriedenheit: Schau sie dir an, wie sicher sie mit dem kompakten Koffer umgeht, in dem alle Flaschen die Reise überlebt haben! Wie wunderbar stoÃfest ist alles eingepackt! Wie gut sie den Weg kennt!
Die Gegend, in der ich meinen Termin habe, sehe ich in Gedanken vor mir. Ein Büro der Agentur »Saatchi & Saatchi«, das ich früher ab und zu besucht habe, ist in der Nähe, ich erinnere mich an weiÃe Treppen mit Säulen. Um sicher zu sein, dass ich die richtige Metro nehme, ziehe ich keine Karte aus dem Automaten, sondern gehe zum Schalter. »Welche Metro muss ich zur St. Jamesâs Street nehmen?«
Hinter dem Schalter sitzt eine junge Frau mit fettigem, gelocktem Haar. Ein grinsender älterer Mann hat sich halb über sie gebeugt, offenbar ist er für ihre Ausbildung zuständig. Möglich, dass er sie tatsächlich nur in den Verkauf von Metrokarten einweiht, aber er wirkt, als könnte er sich kaum zurückhalten. »St. James?«, fragt er, »da müssen Sie dort hinüber auf die andere Seite.«
Und ich, idiotisch wie ich bin, gehe in diese Richtung, ja, steige sogar in den Zug. Artig verfolge ich die Stationen. Noch drei Stationen. Noch zwei. Es ist ziemlich weit, und ich bin froh, dass ich direkt zu meinem Termin kann.
Der Zweifel packt mich erst, als ich im Dunkeln die StraÃe entlanglaufe. »Wissen Sie, wo die St. Jamesâs Street ist?«, frage ich einen blassen Jungen mit einem hellgrünen Irokesenschnitt. »Sie sind schon da!« Er lacht. Ich schaue mich um: viele farbige Menschen, kleine Geschäfte, viel Betrieb, überhaupt nicht die Umgebung, die ich mir für so einen vornehmen Weinladen vorgestellt habe. Aber vielleicht ist »Berry Bros.« kleiner, als ich dachte!? Oder vielleicht habe ich meinen Termin in einem ihrer Geschäfte und nicht in der Hauptniederlassung? Ich mache mich auf Suche nach der Hausnummer drei und muss die ganze StraÃe hinunterlaufen. Den immer schwerer werdenden Koffer mit den Flaschen ziehe ich hinter mir her. Dann werden die Nummern plötzlich gerade, also doch in die andere Richtung. Ich begegne erneut dem jungen Mann mit dem Irokesenschnitt, der mich grüÃt wie eine alte Bekannte. Inzwischen ist es halb sechs, Zeit für meinen Termin. Erst jetzt und schlagartig wird mir bewusst, dass das hier total in die falsche Richtung läuft. Ich weiÃ, dass Simon Field nach mir noch einen anderen Termin hat. Meine Chance ist somit gleich vorbei.
Ich rufe im Büro von »Berry Bros.« an. Der junge Mann, der das Gespräch entgegennimmt, hat keine Ahnung, wo ich bin, ruft aber mehrmals »Buckingham Palace!«. Einen Palast kann ich mir in der Umgebung, in der ich mich gerade befinde, nun wirklich nicht vorstellen, und endlich, endlich dringt es zu mir durch: Es muss noch eine andere St. Jamesâs Street geben.
Ich mache mich sofort auf die Suche nach einem Taxi, etwas, was in dieser Gegend beinahe surreal anmutet. Ich lasse mich zwei Mal in eine Richtung schicken, in der es angeblich einen Taxistand geben soll, dann komme ich an einem Geschäft vorbei. An der Fassade steht mehrmals das Wort »Taxi«. Ich eile hinein, wobei ich meinen inzwischen 100 Kilo wiegenden Koffer mühselig die Treppe hinunterschleife. Hinter einer Trennwand aus Plexiglas sitzt ein Mädchen, das mich mit einem glasigen Blick anstarrt. Hat sie etwas
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