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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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der Triebe ist eine Arbeit, die sehr präzise ausgeführt werden muss. Nach dem Schnitt bleiben ungefähr sechs kleine Äste am Weinstock übrig, die coursons , an denen sich im Frühjahr mehrere Triebe bilden. An jedem courson sollen jedoch laut Lehrbuch nur zwei Triebe stehen bleiben, die anderen bricht man ab. Auf diese Weise ist die Ausbeute geringer, aber die Geschmackskonzentration pro Traube höher. Doch es ist auch unglaublich viel Arbeit und sehr teuer, dafür wochenlang Leute anzustellen.
    Heute ist jemand Neues dazugestoßen, Dominique. Sie ist klein, sehr schmal, und obwohl sie einige Jahre älter ist als ich, hat sie immer noch etwas Mädchenhaftes mit ihren langen dunkelblonden Haaren und ihren sportlichen Pullovern. Sie hat sich sehr gefreut, für mich arbeiten zu können, und will alles besonders gut machen. Als ich mit ihr spreche, stolpert sie über ihre eigenen Worte und erstickt mich fast mit ihren Beteuerungen, alles unter Kontrolle zu haben und sich voll einsetzen zu wollen. Sie hat diese Arbeit angeblich vorher schon einmal gemacht, aber davon merkt man nichts.
    Jetzt, da wir zusammen vor dem Weinstock knien, wird mir bewusst, dass sehr viele Dinge zu beachten sind. Bei einem bereits bestehenden Arm ist es nicht so schwierig, man lässt einfach zwei Triebe pro courson stehen. Aber bei einem neuen Arm gibt es noch keine coursons , dann muss man die Triebe noch auswählen, die den Rebschnitt im Folgejahr und so auch die endgültige Form des Weinstocks bestimmen werden. Ich möchte einen gleichmäßigen Abstand zwischen den Trieben, nicht nur an der einzelnen Pflanze, sondern auch zur angrenzenden Pflanze. Die Triebe an der Oberseite muss man stehen lassen, die an der Unterseite entfernen. Doch manchmal sitzt ein Trieb zwar an der Seite, aber im richtigen Abstand zum nächsten, sodass man besser diesen als den auf der Oberseite stehen lassen sollte.
    Arme Dominique, bei jedem neuen Weinstock zeigt sie beinahe zitternd auf den Trieb, über den sie das Todesurteil fällen will. Ich bitte sie darum, ihre Wahl zu erläutern, und wenn es nicht stimmt, erkläre ich ihr warum. Zunächst scheint es hoffnungslos, aber nach ein paar Stunden enger Zusammenarbeit beginnt sie, die Logik zu verstehen. Besser gesagt: Sie stellt freudig fest, dass es – Gott sei Dank – überhaupt eine Logik gibt.
    Ich lasse sie beruhigt zurück, aber bearbeite weiterhin jeden Morgen eine Stunde lang eine Anzahl Weinstöcke gemeinsam mit ihr. Und langsam wird meine Sichtweise, meine Art zu arbeiten, auch die ihre. Dabei wandern meine Gedanken wie von selbst zurück zu Pierre – ich habe schon jetzt das Gefühl, weniger alleine zu sein. Der Mann hat eine Freundin, denke ich dann, sei vernünftig!
    Â»Mama, es brennt!«, rufen die Mädchen, als ich mit ihnen von der Schule zurückkomme. Die Flammen neben dem Weg wehen hoch über die Büsche, orange lecken sie am Stamm einer alten Eiche. Bruno steht daneben und wirft mit wilden Bewegungen schaufelweise Sand gegen den Baum. »Ne vous inquiétez pas, patronne« , ruft er, während er sich den Schweiß von der Stirn wischt, »je contrôle la situation!«
    Auf dem Weingut entdecke ich die nächste Katastrophe. Dort hängt der Rotovator schief hinter dem Traktor. »Er war doch etwas zu schwer«, wird Bruno später sagen. Ich bezahle 1200 Euro für eine neue Antriebsachse und entdecke erst später dutzende Pflänzchen, die abgebrochen sind.
    Ich bin weit weg mit meinen Gedanken, als Bruno an diesem Vormittag ans Fenster klopft, um seine tägliche Tasse Kaffee abzuholen. Seit meiner ausweichenden Reaktion auf das Geständnis seiner Liebe starrt er mich düster an – sein Blick ist untertänig und fordernd zugleich, während er offenbar darauf wartet, dass ich wieder an unser Gespräch anknüpfe. Ich schalte auf stur, weil ich genau weiß, dass uns eine Diskussion darüber in Teufels Küche bringen, dass es danach keinen Weg zurück für ihn geben wird. Angestrengt lenke ich das Gespräch in andere Bahnen – wie wäre es zum Beispiel mit einem Kultivator?
    Im Weinkeller kontrolliere ich die lange Reihe Fässer. Ich denke an Pierre: Hat er nicht gesagt, dass seine Beziehung beinahe beendet ist? Wie viele Männer gibt es schon, die Winzer sind, gut aussehen, gut ausgebildet sind und auch noch in der Nähe wohnen? Schon aus rein

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