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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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statistischen Erwägungen muss ich ihn wiedersehen. Schließlich wähle ich seine Nummer. Er ist kein bisschen überrascht. Wir verabreden uns noch für denselben Nachmittag.
    Nervös steige ich in mein Auto. Ich habe das Gefühl, oben an einer hohen Piste zu stehen – wenn ich mich jetzt nach unten stürze, gibt es kein Zurück mehr. Einen kurzen Augenblick zweifele ich noch, dann fahre ich auf die Auffahrt. Ich verlasse die Straße und biege in einen kleinen Weg ein, der auf beiden Seiten von Weinfeldern und verwildertem Wald gesäumt wird. Es ist ein ziemlich langer Weg durch eine Umgebung, in der ich immer weniger Menschen begegne. Ich habe schon lange kein Dorf mehr gesehen, nirgendwo sind Häuser, nur raue Natur, in der die braunroten Felswände fast so etwas wie Geborgenheit spenden.
    Als ich schon glaube, mich endgültig verfahren zu haben, klingelt mein Handy: »Hast du einen blauen Volvo?«
    Er ist es, Pierre. Ich sage ja. »Dann sehe ich dich«, verkündet er. »Ich stehe auf der anderen Seite des Weges, ein weißer Renault 4. Fahr einfach hinter mir her.« Ich sehe ihn durch das Fenster, er lacht mich an. Dann biegt er in einen Sandweg ein, der immer schmaler wird. Ich betrachte seinen Kopf mit den wilden braunen Haaren, dann denke ich kurz, dass dieses Land wirklich sehr einsam ist, dass ich mich gerade von einem Mann mitnehmen lasse, den ich gar nicht kenne. Doch der Gedanke verschwindet wie von selbst.
    Wir parken am Fuße eines langgezogenen steilen Hangs, der mit Wein bepflanzt ist. Ich schaue zu dem Mann hinüber, der aus dem Auto steigt. Ja, ich erkenne ihn wieder, aber er wirkt noch ein wenig wilder in seinen verschlissenen Shorts und dem halb geöffneten Hemd. Ich sehe seine gebräunte, unbehaarte Brust, seine glatte Haut, an der ich gerne riechen würde.
    Â»Das also ist es«, sagt er und zeigt mit einer weit ausholenden Bewegung in Richtung des Hangs. Er geht mir zum nächstliegenden Weinberg voraus. Pierre läuft schnell, und bei jeder Parzelle spricht er über die Rebsorte und seine Art zu schneiden. Wir überqueren einen Graben, da, noch ein Weinfeld. Der riesige Hügel ist mit Wein bepflanzt.
    Nach zehn Minuten strammen Marsches wird mir klar, dass er einen Rundgang über die ganzen 30 Hektar machen möchte. Links, wieder ein Carignan. Rechts, ein Mourvèdre. Er hat einen eigenen Bagger – schau mal, wie hervorragend dieser Bewässerungsgraben angelegt ist! Ich sehe interessiert zu, denke an das, was ich zu bieten habe, aber hopp, schon stehen wir wieder auf der nächsten Terrasse. Anderthalb Stunden später haben wir noch immer über nichts anderes als Weinbau und Weinherstellung geredet. Schließlich sind wir vor einem großen Schuppen aus verwittertem Metall angelangt. »Et voilà!« , sagt er stolz. Der Höhepunkt. Sein neuer Traktor.
    Während der folgenden Stunde präsentiert er mir ausführliche technische Details zu seinem Pflug, seiner écimeuse zum Schneiden der Rebstöcke, seinem Spritzwagen – mehr, als ich verarbeiten kann. Ich lausche seinem Redefluss mit Verwunderung, ist das wirklich der Mann aus dem Zug? Jedes Wort stapelt sich wie ein weiterer Stein zwischen uns auf. Ich habe das Gefühl, dass es seine Methode ist, sich zu schützen, mich auf Abstand zu halten. Die Situation scheint mir eindeutig, in meiner Phantasie sitze ich daher schon wieder in meinem Auto, starte es. Jetzt stehe ich auf, um diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Pierre blickt mir zum ersten Mal in die Augen. »Hm«, fragt er zögernd, »hast du Lust, mit mir essen zu gehen?«
    So dicht nebeneinander ist plötzlich alles anders – der kleine Renault steht unter Strom. Pierre ist mir so nah, dass ich sein Bein berühren würde, wenn ich meine Hand von meinem Schoß gleiten ließe. Er schaut mich kurz von der Seite an, ich frage mich, warum ich so intensiv fühle, ja: was ich eigentlich verspüre.
    Im Restaurant sitzen wir an einem winzigen viereckigen Tisch. Es lässt sich beinahe nicht verhindern, dass sich unsere Beine berühren. Mit einem unbehaglichen Gefühl rutsche ich zur Seite, er auch. Wie von selbst kehren wir zu unserem Gespräch im Zug zurück. Ich sehe wieder den gleichen Glanz in seinen Augen, wenn ich ihm Fragen stelle, unsere geistige Nähe zeigt sich. »Mein Gott, es ist so lange her, dass ich so mit jemandem sprechen

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