Träume jenseits des Meeres: Roman
voranging. Offenbar kannte sie diesen heiligen Ort gut. Eine tiefe Felsspalte führte in eine geheime schmale Höhle.
»Beeil dich!«, zischelte sie, als Garnday zögerte. »Unsere Arbeit ist noch nicht beendet. Wir haben nicht viel Zeit.«
Garnday gehorchte. Kurz darauf trugen sie ihre Last durch einen langen Tunnel hinab. Von den Wänden hallten ihre Atemzüge wider, und sie glaubte die Augen der bösen Geister zu spüren, die sie auf ihrem Weg in die Höhle beobachteten.
»Das reicht.«
Es herrschte vollkommene Finsternis. Garnday ließ die Last fallen und trat einen zögernden Schritt zurück. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Wände der Höhle schienen immer näher zu rücken.
Die Stimme der alten Frau dröhnte in der Dunkelheit. »Hier an dieser Stelle ist ein tiefes Loch.« Ihre knöcherne Hand umklammerte Garndays Arm und zog sie nach vorn, bis ihre Zehen den Rand eines unsichtbaren Abgrunds spürten.
Garnday zitterte angesichts der Gefahr, doch war ihr bewusst, dass sie der Alten gehorchen musste, wenn sie diesen schrecklichen Ort je verlassen wollte.
Auf den Befehl der Alten warfen sie die Leiche mit Schwung ins Leere und lauschten. Wie reifes Obst prallte der leblose Körper gegen unsichtbare Wände und löste dabei Steine und Geröll. Dieser stumme Fall hatte etwas Abstoßendes.
Die Alte warf einen schweren Steinbrocken hinterher. »So«, murmelte sie, »geschafft.«
Garnday hetzte zurück durch den Tunnel. Sie stolperte in die Höhle und zwängte sich ungeachtet der Schnitte und Kratzer durch die scharfen Felsen und die klebrigen, dornigen Pflanzen ins Freie. Sie rutschte über die steile Rundung des Eis und fiel auf den Boden. Dankbar krallte sie sich in die weiche rote Erde und sog gierig die herrliche kalte Nachtluft ein.
Rollende Kiesel kündeten den Abstieg der älteren Frau an. Garnday hörte, dass sie tief einatmete und einen leisen Schmerzenslaut von sich gab, als sie neben ihr landete. »Was ist los?«, wollte sie wissen. »Bist du verletzt?«
Ihre Frage wurde herrisch beiseitegewischt. »Nichts ist. Geh zu den anderen zurück!«
Garnday bedurfte keiner Aufforderung. Sie rannte auf den heimeligen Schein zu, der noch immer von der Feuerstelle ausging, und kroch unter die Kängurufelle. Während sie zitternd dort lag, kehrte auch die alte Frau zurück. Garnday konnte es nur erahnen, denn sie bewegte sich wie ein Schatten. Kein Wunder, dass es ihr gelungen war, das Liebespaar auszuspionieren.
»Sie ist weg! Meine Kleine ist verschwunden!« Der grauenhafte Schrei zerriss die Stille.
Garnday sprang mit klopfendem Herzen auf und packte ihre erschrockenen Kinder. Alle wurden wach, die Männer erhoben sich sofort und griffen nach den Speeren.
Das Gesicht der jungen Frau war tränenüberströmt. Sie raufte sich die Haare. »Sie ist weg. Die Geister haben mein kleines Mädchen geholt.«
»Seit wann?«
»Als ich wach wurde, war sie nicht mehr da«, jammerte die Mutter.
Malangi schritt in den Kreis. »Meine Frau ist auch fort«, verkündete er. »Ich habe fast die ganze Nacht nach ihr gesucht.« Er warf Djanay einen kurzen Blick zu. »Vielleicht haben die Geister auch sie geholt?«
Djanays Blick irrte umher. »Sie ist zu alt für die Geister«, platzte es aus ihm heraus. »Die nehmen nur Kinder.«
Zustimmendes Raunen machte die Runde, unterbrochen nur vom Jammern der beraubten Mutter. »Wir vergeuden Zeit«, kreischte sie. »Wir müssen sie finden.«
Die alte Frau zwängte sich in die Mitte der Gruppe. »Sucht bei den Steinen und auf den verborgenen Pfaden«, befahl sie. »Wenn wir sie nicht finden, werden wir singen, um sie zurückzuholen.«
Garnday musterte die Alte scharf. Sie würde doch kein Kind benutzen, um ihre Schandtat zu vertuschen! Und wenn doch – was hatte sie dann mit dem Kind gemacht?
»Komm schon. Worauf wartest du noch, Garnday?«
Garnday sah das Humpeln der Alten, die ihre linke Hüfte schonte. Vielleicht war das die Strafe der Geister für das Böse, das sie verübt hatte – denn wenn sie mit dem Clan nicht mehr mithalten konnte, bedeutete eine Verletzung den Tod.
Als die Sonne höherstieg, versammelten sich die Frauen und begannen zu singen. Sie mussten die Geister des Karlwekarlwe besänftigen, wenn sie die Verlorenen wiedersehen wollten.
Malangi starrte mit versteinerter Miene in die Flammen. Djanays Augen waren gerötet, doch er hatte immerhin die Kraft, das volle Ausmaß seiner Gefühle zu verbergen. Garnday konzentrierte sich auf die
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