Die große Zukunft des Buches
Vorwort
»Dieses wird jenes töten. Das Buch wird das Gebäude töten.« Dieses berühmte Diktum legte Victor Hugo dem Archidiakon von Notre-Dame de Paris, Claude Frollo, in den Mund. Gewiss wird die Architektur nicht sterben, aber in einer sich verändernden Kultur wird sie ihre kulturelle Leitfunktion verlieren. »Das zum Buch hindrängende Denken benötigt nur ein wenig Papier, Tinte und eine Feder. Wer dies erwägt und vergleicht, wird sich kaum darüber wundern, dass das Denken von der Architektur zur Druckerei hinübergewechselt hat.« Sie sind nicht verschwunden, unsere »Bibeln aus Stein«, aber die Gesamtheit der von Hand geschriebenen und dann der gedruckten Texte, dieser »Ameisenhaufen aller tätigen Geister, in den die phantasiebeflügelten Gedanken, diese goldschimmernden Tierchen, ihren Honig tragen«, hat am Ende des Mittelalters ihre Bedeutung mit einem Schlag empfindlich geschmälert. Auch wenn sich das elektronische Buch in ähnlicher Weise auf Kosten des gedruckten Buches durchsetzen sollte, besteht doch wenig Aussicht, dass es ihm gelingen könnte, das gebundene Buch aus unseren Häusern und unseren Gewohnheiten zu verdrängen. Das E-Book wird das Buch nicht töten. Ebenso wenig wie Gutenberg und seine geniale Erfindung von heute auf morgen den Gebrauch von Kodizes unterbunden hat oder den Handel mit Papyrusrollen und volumina . Die jeweiligen Praktiken und Gewohnheiten bestehen nebeneinander weiter, und nichts lieben wir mehr, als das Spektrum unserer Möglichkeiten zu erweitern. Hat der Film die Gemäldegetötet? Das Fernsehen den Film? Willkommen seien daher Rechner und periphere Lesegeräte, die uns über einen einzigen Bildschirm Zugang zur mittlerweile digitalisierten Universalbibliothek gewähren.
Die Frage ist vielmehr, welche Veränderungen die Lektüre am Bildschirm für den Prozess bedeutet, den wir bisher nur als Umblättern von Buchseiten kannten. Was gewinnen wir durch diese neuen weißen Geräte und vor allem, was verlieren wir? Überholte Gewohnheiten vielleicht. Eine gewisse sakrale Aura, die das Buch umgab innerhalb einer Kultur, die es auf den Altar erhob. Eine besondere Intimität zwischen Autor und Leser, die durch den Begriff der Hypertextualität zwangsläufig außer Kurs gesetzt wird. Die Idee der »Geschlossenheit«, die das Buch verkörperte und davon ausgehend gewisse Praktiken der Lektüre. »Indem sie die überkommene Bindung zwischen den Diskursen und ihrer Materialität zerbricht«, erläuterte Roger Chartier in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France, »zwingt die digitale Revolution zu einer radikalen Neubestimmung der Tätigkeiten und Begriffe, die wir mit dem Geschriebenen verbinden.« Tiefgreifende Umwälzungen wahrscheinlich, von denen wir uns aber erholen werden.
In dem Gespräch zwischen Jean-Claude Carrière und Umberto Eco ging es also nicht darum zu beurteilen, welche Veränderungen und Konflikte die Verbreitung (oder Nicht-Verbreitung) des E-Book im großen Maßstab mit sich bringen würde. Ihre Erfahrungen als Bücherliebhaber und Sammler von alten und seltenen Büchern, als Jäger von Inkunabeln, brachten sie hier eher dahin, das Buch ähnlich wie das Rad als etwas unübertrefflich Vollkommenes zu betrachten. Sobald also die Zivilisation das Rad erfindet, kann sie sich nur bis zum Überdruss wiederholen. Ob man die Anfängedes Buches auf die ersten Kodizes (etwa im 2. Jahrhundert n. Chr.) datiert oder auf die wesentlich älteren Papyri, man hat doch stets ein Werkzeug vor sich, das sich trotz aller Wandlungen, die es durchgemacht hat, selbst erstaunlich treu geblieben ist. Das Buch erscheint hier als eine Art »Rad des Wissens und des Imaginären«, das die absehbaren oder befürchteten technologischen Veränderungen nicht zum Stillstand bringen werden. Hat man diese beruhigende Feststellung getroffen, kann die eigentliche Debatte beginnen.
Dem Buch steht eine technologische Revolution bevor. Aber was ist ein Buch? Was sind die Bücher, die in unseren Regalen, in denen der Bibliotheken der ganzen Welt stehen und in sich das Wissen und die Träume bergen, die die Menschheit angehäuft hat, seitdem sie imstande ist zu schreiben? Welches Bild haben wir von dieser Odyssee, die der Geist durch sie zurückgelegt hat? Welche Spiegel halten sie uns vor? Und wenn wir nur die herausragenden Werke dieser Produktion betrachten, solche, die der allgemeine Konsens zu Meisterwerken erklärt hat, so fragt sich: Werden wir ihrer eigentlichen Funktion
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