Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Transfer

Transfer

Titel: Transfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
Vom Netzwerk:
festem Land stand? Dessen, was ihm an Willenskraft reichte, um sich zu retten? Na - und?
    Was ging das irgend jemanden an? Was konnte es einen schon interessieren, mit welchen Dingen ich mein unglückseliges Hirn innerhalb dieser zehn Jahre vollstopfte, und warum sollte das wichtiger sein als das, was meine Gedärme füllte? >Man muß diesem asketischen Heldenspiel ein Ende machen<, dachte ich. >Das werde ich mir leisten können, wenn ich so aussehe wie er. Jetzt muß ich an die Zukunft denken.<
    »Helfen Sie mir aufzustehen«, flüsterte er.
    Ich brachte ihn zum Glider, der auf der Straße stand. Wir gingen äußerst langsam. Da wo es zwischen den Hecken hell war, folgten uns die Blicke der Menschen. Ehe er in den Glider stieg, drehte er sich um, wollte sich von mir verabschieden. Weder er noch ich fanden dabei ein einziges Wort. Er machte irgendeine unverständliche Handbewegung, aus seiner Hand wuchs wie ein Degen einer seiner Stöcke hervor, er bewegte den Kopf, stieg ein, und das dunkle Fahrzeug setzte sich lautlos in Bewegung. Er war fortgeschwommen, und ich stand mit herabhängenden Armen da, bis der schwarze Glider in einem Rudel anderer verschwand. Dann steckte ich die Hände in die Hosentaschen und ging vorwärts, ohne eine Antwort auf die Frage finden zu können, wer von uns wohl die bessere Wahl getroffen hatte.
    Die Tatsache, daß von der Stadt, die ich einst verließ, nicht ein
    Stein auf dem anderen geblieben war, fand ich gut. Als ob ich damals auf einer anderen Erde, unter ganz anderen Menschen gelebt hätte; das hat einmal angefangen und ging endgültig zu Ende; und dies hier war neu. Gar keine Überbleibsel, keine Ruinen, die mein biologisches Alter in Frage stellen konnten. Ich konnte die -sen irdischen Ausgleich ganz vergessen, der ja so widerdie Natur war - bis mich dieser unwahrscheinliche Zufall mit jemandem zusammenbrachte, den ich einst verließ, als er noch ein kleines Kind war. Die ganze Zeit, als ich neben ihm saß, seine vertrockneten, mumienartigen Hände, sein Gesicht betrachtete, fühlte ich mich schuldig und wußte auch, daß er es wußte.
    »Was für ein unwahrscheinlicher Zufall« - wiederholte ich fast gedankenlos einige Male. Bis ich gewahr wurde, daß ihn eben derselbe Grund dorthin geführt haben konnte wie mich: dort wuchs ja die Kastanie, ein Baum, der noch älter war als wir beide. Ich hatte keine Ahnung, wie weit es ihnen gelungen war, die Lebensgrenzen zu verschieben, merkte jedoch, daß das Alter von Roemer eine Ausnahme sein mußte: er war wahrscheinlich der letzte oder einer der letzten Menschen seiner Generation.
    >Wäre ich nicht geflogen, würde ich nicht mehr leben<, dachte ich. Zum ersten Mal zeigte sich mir die Expedition von ihrer anderen, unerwarteten Seite: als eine Art Ausflucht, als ein grausamer Betrug, den ich den anderen angetan hatte. Ich ging, fast ohne zu wissen wohin, um mich herum wuchs der Lärm der Menge, die mich mitriß und mitschob - und plötzlich, wie erwachend, blieb ich stehen.
    Es herrschte ein unbeschreiblicher Lärm: unter vermischten Schreien und Musiklauten zerstoben hoch am Himmel die Feuerwerksalven und hingen oben in bunten Sträußen; ihre Flammenkugeln flogen in die benachbarten Baumkronen. Und all das wurde in regelmäßigen Abständen von einem vielstimmigen, schrillen Geschrei durchdrungen, als befände sich irgendwo in der Nähe eine Berg- und Talbahn; aber ihr Gerüst suchte ich vergebens.
    Im Parkinnern gab es ein großes Gebäude mit Wehrmauern und Türmchen, wie eine aus dem Mittelalter übertragene Festung: kalte Neonflammen, die das Dach beleckten, formten von Zeit zu Zeit die Worte MERLINS SCHLOSS. Die Menge, die mich hierher geführt hatte, strebte jetzt seitwärts zu der scharlachroten Wand eines Pavillons, die eigenartig genug war, da sie an ein
    rnenschliches Gesicht erinnerte: ihre Fenster waren brennende Augen, und der riesige, grinsende Rachen voller Zähne tat sich auf, um eine nächste Portion von Menschen zu verschlingen, die sich unter allgemeiner Heiterkeit herandrängten: jedesmal wurde die gleiche Zahl von Personen verschlungen. Anfangs wollte ich aus der Menge heraus und weggehen, das war jedoch nicht einfach. Außerdem hatte ich ja kein anderes Ziel, und so kam mir der Gedanke, daß von allen möglichen Arten, den Abend zu verbringen, diese vielleicht nicht die schlechteste wäre. Alleinstehende wie mich gab es unter denen, die mich umringten, nicht - es überwogen Paare, Jungen und Mädchen, Frauen und

Weitere Kostenlose Bücher