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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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mit Kranen besetzten Mole. Ein alter, ziemlich heruntergekommener Schiffer stand ein paar Meter von mir entfernt und starrte reglos hinaus. Ich fragte mich, ob seine Augen wohl schärfer als meine seien, weil sie etwas mir Unsichtbares anstarrten. Doch merkte ich bald, er sah auch nichts anderes als den Strich zwischen Mole und Hangar, wo Himmel und Meer sich berührten, den dünnen Strich, der unsereins viel mehr erregt als die wildeste zackige Kurve der kühnsten Bergketten.
    Ich ging den Quai entlang, und plötzlich schüttelte mich wie ein Fieber der Wunsch, rasch abzufahren. Jetzt konnte ich abfahren. Nur jetzt. Ich würde noch auf dem Schiff Marie ihrem Begleiter abjagen. Ich würde den Zufall zunichte machen, der sie zusammengefügt hatte auf der Flucht und nur auf der Flucht, ohne Sinn und Ziel, in einer verzweifelten Stunde, auf dem Boulevard Sébastopol. Ich würde endlich alles zurücklassen und neu anfangen. Ich würde spotten über das unerbittliche Gesetz, daß das Leben einmalig ist und eingleisig. Doch wenn ich zurückblieb, dann würde ich immer derselbe sein. Langsam alternd, ein etwas mutiger, etwas schwächlicher, etwas unzuverlässigerBursche, der höchstens mit Ach und Krach, ohne daß es die anderen auch nur gewahr würden, etwas mutiger werden könnte, etwas weniger schwächlich und ein klein wenig zuverlässiger. Nur jetzt konnte ich abfahren. Dann nie mehr.
    Am Steg hinter dem Hangar lag ein kleines sauberes Schiff. Es mochte seine 8 000 Tonnen haben. Ich konnte zwar den Namen nicht lesen, wahrscheinlich war es die »Montreal«. Ich rief den Schiffer, der langsam auf mich zukam. Ich fragte ihn, ob das die »Montreal« sei. Er sagte, das Schiff sei der »Marcel Millier«, die »Montreal« liege wohl eine Stunde von hier entfernt bei dem Hangar 40. Seine Antwort ernüchterte mich. Ich hatte mir schon vorgestellt, dieses Schiff sei meins, es sei mein Schicksal. Das richtige Schiff lag aber weit weg.
V
    Ich fuhr in die Rue du Relais. Zum dritten- und letztenmal stieg ich die Treppe hinauf, die sich um die Höhle wand, wo der Arzt Marie versteckt hielt. Ihr jetzt keine Silbe verraten, erst auf dem Schiff vor ihr stehen, das würde das beste, der echteste Zauber sein. Doch wußte ich nicht genau, ob ich stark genug war, den Abschied zu spielen.
    Der Ofen brannte nicht mehr, die Kälte war seit ein paar Tagen gebrochen, der Winter im Abziehen. Ich klopfte, eine Hand streckte sich heraus, auf die ein blauer Saum fiel. Marie trat einen Schritt zurück. Ich konnte mir ihr Gesicht nicht erklären, das ernst und etwas starr war. Sie fragte rauh: »Warum kommst du?« Die Koffer standen herum wie an jenem Morgen, als der Arzt hatte abfahren wollen. Jetzt war das ganze Zimmer verstaut.
    »Ich komme«, sagte ich leichthin, obwohl mein Herz schlug, »um dir ein Reisegeschenk zu bringen. EinenHut.« Sie lachte auf, küßte mich zum erstenmal, rasch und leicht, setzte sich den Hut vor dem Waschtischspiegel auf. Sie sagte: »Er paßt sogar. Du hast die verrücktesten Einfälle. Warum sind wir zwei erst zusammengekommen im Winter vor der Abfahrt? Wir hätten uns längst kennen sollen.« – Ich sagte: »Gewiß, Marie. Ich hätte mich, damals, wo war es, in Köln auf die Bank setzen sollen statt jenes anderen Mannes.« Sie wandte sich ab und tat so, als ob sie packe. Sie bat mich, den Koffer zu verschließen. Wir setzten uns nebeneinander auf den verschlossenen Koffer, sie schob ihre Hand in meine Hände. Sie sagte: »Wenn mir nur nicht bang wäre! Warum ist mir nur bang? Ich weiß, daß ich abfahren muß, und ich will abfahren, und ich werde abfahren. Doch manchmal wird mir so bang, als hätte ich etwas vergessen, etwas Wichtiges, Unersetzbares. Ich könnte die Koffer wieder auspacken und wühlen und alles herauswerfen. Und während mich alles fortzieht, grüble ich nach, was es ist, was mich zurückhält.«
    Ich fühlte, mein Augenblick kam, ich sagte: »Vielleicht ich.« Sie sagte: »Ich kann es gar nicht glauben, daß ich dich nie wiedersehen soll. Ich schäme mich nicht, es dir einzugestehen, mir kommt es vor, du seiest nicht der letzte, den ich gekannt habe, sondern der erste. Als seiest du schon damals dabei gewesen in meiner Kindheit, in unserem Land, von jenen wilden und braunen Knabengesichtern eines, das zwar den Mädchen noch nicht die Liebe eingibt, aber die Frage, wie wohl die Liebe sein mag. Als seiest du unter den Knaben gewesen, mit denen ich Klicker gespielt habe in unserem kühlen Hof. Doch

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