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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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kenn ich gerade dich die kürzeste Zeit, am allerflüchtigsten. Ich weiß nicht, woher du kommst und warum. Das dürfte nicht sein, daß ein Visenstempel, der Urteilsspruch eines Konsuls die Menschen für immer trennt. Nur der Tod dürfte endgültig sein. Nie ein Abschied, nie eine Abfahrt.« Mein Herz klopfte vor Freude, ich sagte: »Das meiste hängt immer noch von uns ab. Was würde aberder andere sagen, wenn ich plötzlich auf dem Schiff stünde?«
    Sie sagte: »Ja eben – der andere.«
    Ich fuhr heftiger fort: »Ihm bleibt ja sein Reiseziel, sein Beruf. Er hat uns ja selbst erzählt, das sei ihm viel wichtiger als sein Glück.«
    Sie schob ihren Kopf unter meinen Arm, sie sagte: »Ach, der? Wir wollen einander doch nichts vormachen. Du weißt, wer uns trennt. Wir wollen einander doch nicht belügen, in der letzten Minute, du und ich.«
    Ich legte mein Gesicht auf ihr Haar, ich fühlte, wie lebend ich Lebender war und wie tot der Tote.
    Sie lehnte den Kopf an meine Schulter. Wir saßen minutenlang da mit geschlossenen Augen. Ich hatte die Empfindung, der Koffer schaukle. Wir fuhren sachte dahin. Das waren für mich die letzten Minuten vollkommenen Friedens. Ich war auf einmal zur Wahrheit bereit, ich rief: »Marie!« Sie riß sofort ihren Kopf zurück.
    Sie sah mich scharf an. Sie wurde bis in die Lippen bleich. Der Ton meiner Stimme vielleicht, vielleicht der Ausdruck meines Gesichts warnte sie, daß ihr etwas Unglaubliches bevorstand, ein unerhörter Angriff auf ihr Leben. Sie hob sogar ihre beiden Hände, als wollte sie einen Schlag abwehren.
    Ich sagte: »Ich bin dir vor der Abfahrt die Wahrheit schuldig. Dein Mann, Marie, ist tot. Er hat sich das Leben genommen in der Rue de Vaugirard beim Einmarsch der Deutschen in Paris.«
    Sie senkte die Hände und legte sie in den Schoß. Sie lächelte. Sie sagte: »Da sieht man, was man von euren Ratschlägen halten kann. Da sieht man, was eure sicheren Nachrichten wert sind. Gerade seit gestern weiß ich für sicher, daß er noch lebt. So sieht deine große Wahrheit aus.«
    Ich starrte sie an und sagte: »Du weißt gar nichts. Was weißt du?«
    »Ich weiß jetzt, daß er noch lebt. Ich ging auf das Fremdenamt in der Präfektur, um mein Visa de sortie abzuholen.Da gab es eine Beamtin, sie fertigte meine Papiere aus, sie half mir. Sie war zwar sonderbar anzusehen, klein und dick, doch war mehr Güte in ihren Augen, als mir sonst in diesem Land begegnet ist. Sie half auch allen mit Rat und Tat, kein Dossier war ihr zu verzwickt. Man fühlte sofort, daß diese Frau allen helfen wollte, daß sie selbst besorgt war, wir möchten alle noch rechtzeitig abfahren, damit keiner den Deutschen in die Hände fiel oder nutzlos in einem Lager zugrunde ging. Man sah ihr an, daß sie nicht zu jenen gehörte, die träge denken, daß nichts mehr zu etwas nützt, daß sie vielmehr besorgt war, es möchte, selbst wenn auch nichts mehr nützte, in ihrem Bereich keine Unordnung sein, nichts Schadbares aufkommen. Sie gehörte zu jenen, verstehst du, um derentwillen ein ganzes Volk gerettet wird.«
    Ich sagte verzweifelt: »Du beschreibst sie gut. Ich kann mir die Frau vorzüglich vorstellen.«
    »Da faßte ich mir ein Herz. Ich wagte sonst nie, eine Frage zu stellen. Ich fürchtete ja, ich könne mit Fragen schaden. Jetzt aber, mit meinen letzten Papieren in der Tasche, jetzt konnte ich niemand mehr schaden. Ich fragte diese Frau. Sie sah mich aufmerksam an, als hätte sie die Frage bereits erwartet. Sie erwiderte, ihr sei nicht erlaubt, mir zu antworten. Da drang ich denn in sie und bat und bat, sie möge mir, falls sie es wisse, wenigstens sagen, ob mein Mann noch lebt. Da legte sie ihre Hand auf mein Haar und sagte: ›Beruhigen Sie sich, meine Tochter! Sie werden vielleicht noch auf der Fahrt mit Ihrem Liebsten vereint werden.‹«
    Marie sah mich schräg an mit ihrem listigen Lächeln. Sie stellte sich vor mich hin und fragte: »Du zweifelst vielleicht auch jetzt noch? Glaubst immer noch diesen Gerüchten? Was kannst denn du wissen? Was weißt denn du? Hast du ihn denn vielleicht tot gesehen mit deinen eigenen Augen?«
    Ich mußte eingestehen: »Nein.« Ich merkte erst nachher den dünnen Atem, den leichten, unmerklichen Tonvon äußerster Furcht in ihren kurzen spöttischen Fragen. Sie sagte dann völlig erleichtert und heiter: »Mich hält jetzt nichts mehr zurück. Wie leicht wird mir jetzt die Abfahrt!«
    Da gab ich es auf. Der Tote war uneinholbar. Er hielt in der Ewigkeit fest, was

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