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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Bahnhof von Toulouse, kletterte ich über eine liegende Frau, die zwischen Koffern, Bündeln und zusammengelegten Gewehren einem verschrumpften Kind die Brust gab. Wie war die Welt in diesem Jahr gealtert. Alt sah der Säugling aus, grau war das Haar der stillenden Mutter, und die Gesichter der beiden kleinen Brüder, die über die Schulter der Frau sahen, waren frech, alt und traurig. Alt war der Blick dieser Knaben, denen nichts verborgen geblieben war, das Geheimnis des Todes ebensowenig wie das Geheimnis der Herkunft. Alle Züge waren noch vollgepfropft mit Soldaten in verkommenen Uniformen, offen ihre Vorgesetzten beschimpfend, fluchend ihrer Marschorder folgend, aber doch folgend, weiß der Teufel wohin, um in irgendeinem übriggebliebenen Teil des Landes ein Konzentrationslager zu bewachen oder einen Grenzübergang, der bestimmt morgenverschoben sein würde, oder sogar, um nach Afrika eingeschifft zu werden, weil ein Kommandant in einer kleinen Bucht beschlossen hatte, den Deutschen die kalte Schulter zu zeigen, aber wahrscheinlich längst abgesetzt worden war, eh die Soldaten ankamen. Aber einstweilen fuhren sie los, vielleicht, weil diese unsinnige Marschorder wenigstens etwas war, woran man sich hielt, ein Ersatz für einen erhabenen Befehl oder eine große Parole oder für die verlorengegangene Marseillaise. Einmal reichten sie uns den Rest eines Mannes herauf, Rumpf und Kopf, leere Uniformstücke hingen an ihm herunter statt Arme und Beine. Wir klemmten ihn zwischen uns, steckten ihm eine Zigarette zwischen die Lippen, da er keine Hände mehr hatte, er versengte sich seine Lippen, knurrte und fing plötzlich zu heulen an: »Wenn ich bloß wüßte wozu?« Uns war es allen auch zum Heulen – Wir fuhren in einem großen sinnlosen Bogen, bald in Asylen übernachtend, bald auf dem Felde, bald auf Camions aufspringend, bald auf Waggons, nirgends auf eine Bleibe stoßend, geschweige denn auf ein Arbeitsangebot, in einem großen Bogen immer tiefer dem Süden zu, über die Loire, über die Garonne, bis zur Rhone. All diese alten, schönen Städte wimmelten von verwilderten Menschen. Doch es war eine andere Art von Verwilderung, als ich geträumt hatte. Eine Art Stadtbann beherrschte diese Städte, eine Art mittelalterliches Stadtrecht, jede ein anderes. Eine unermüdliche Schar von Beamten war Tag und Nacht unterwegs wie Hundefänger, um verdächtige Menschen aus den durchziehenden Haufen herauszufangen, sie in Stadtgefängnisse einzusperren, woraus sie dann in ein Lager verschleppt wurden, sofern das Lösegeld nicht zur Stelle war oder ein fuchsschlauer Rechtsgelehrter, der bisweilen seinen unmäßigen Lohn für die Befreiung mit dem Hundefänger selbst teilte. Daher gebärdeten sich die Menschen, zumal die ausländischen, um ihre Pässe und ihre Papiere wie um ihr Seelenheil. Ich begann sehr zu staunen, wie diese Obrigkeiten, inmitten des vollkommenenZusammenbruchs, immer langwierigere Prozeduren erfanden, um die Menschen, über deren Gefühle sie schlechterdings jede Macht verloren hatten, einzuordnen, zu registrieren, zu stempeln. Man hätte ebensogut bei der großen Völkerwanderung jeden Vandalen, jeden Goten, jeden Hunnen, jeden Langobarden einregistrieren können.
    Durch die Schlauheit meiner Kumpane entrann ich oftmals den Hundefängern. Denn ich hatte gar keine Papiere, ich war ja geflohen, meine Papiere waren im Lager zurückgeblieben, in der Kommandantenbaracke. Ich hätte angenommen, daß sie inzwischen verbrannt seien, wenn mich nicht die Erfahrung belehrt hätte, daß Papier viel schwerer verbrennt als Metall und Stein. Einmal forderte man an einem Wirtshaustisch unsere Papiere. Meine vier Freunde hatten französische, ziemlich solide – allerdings war auch der ältere Binnet keineswegs ordentlich demobilisiert. Weil unser Hundefänger betrunken war, merkte er nicht, daß mir Marcel seine bereits kontrollierten Papiere unter dem Tisch durchreichte. Gleich darauf führte derselbe Beamte aus derselben Wirtsstube ein sehr schönes Mädchen ab, unter den Flüchen und dem Gejammer seiner Tanten und Oheime, aus Belgien geflüchteter Juden, die sie an Kindes Statt mitgenommen hatten mit viel Treue und ungenügenden Ausweisen. Wahrscheinlich sollte sie jetzt in ein Frauenlager verschleppt werden, in einen Winkel der Pyrenäen. Sie ist mir im Gedächtnis geblieben durch ihre Schönheit und durch den Ausdruck ihres Gesichtes, als sie sich von den Ihren trennte und abgeführt wurde. Ich fragte meine Freunde,

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