Transit
mich in Paris zu verkriechen. Ich stellte mir das unbesetzte Gebiet verwildert und unübersichtlich vor, ein Durcheinander, in dem sich ein Mensch wie ich, wenn er wollte, verlieren konnte. Und wenn mein Leben vorerst nichts sein sollte als ein Herumgeschleudertwerden, so wollte ich wenigstens in die schönsten Städte geschleudert werden, in unbekannte Gegenden. Mein Wunsch, mich anzuschließen, wurde gut aufgenommen.
Am Morgen vor unserer Abreise trug ich noch einmal den Handkoffer auf das mexikanische Konsulat. Ich wurde diesmal mit meinem Papier hineingelassen. Ich fand mich in einem kühlen runden Raum, der gut zu der seltsamen Außenseite des Hauses paßte. Man rief den Namen auf, den ich angegeben hatte. Doch da man dreimal rufen mußte, bevor ich mich darauf besann, daß es meiner war, geleitete mich mein Zyklop nur widerwillig und, wie ich glaube, mißtrauisch.
Ich wußte nicht, wer der runde Mann war, der mich empfing. Der Konsul selbst, der stellvertretende Konsul, der Sekretär des stellvertretenden Konsuls oder ein Sekretärstellvertreter? Ich stellte dem Mann den Handkoffer unter die Nase. Dabei erklärte ich wahrheitsgetreu, daß er jemand gehöre, der sich das Leben genommen habe und ein Mexiko-Visum besitze, und daß man den Inhalt des Koffers der Frau schicken möge. Ich kam überhaupt nicht dazu, den Namen des Toten zu nennen. Der Mann unterbrach meinen Bericht, der ihm sichtlich mißfiel. Ersagte: »Entschuldigen Sie, mein Herr! Ich könnte Ihnen selbst in normalen Zeiten kaum helfen. Viel weniger jetzt, wo die Post unterbrochen ist. Sie können unmöglich verlangen, daß wir die Hinterlassenschaft dieses Menschen in unseren Kurierbeutel stecken, nur deshalb, weil meine Regierung ihm einmal bei Lebzeiten ein Visum ausgestellt hat. Verzeihen Sie bitte, Sie müssen es einsehen, ich bin mexikanischer Vizekonsul, ich bin kein Notar. Vielleicht sind ihm bei Lebzeiten auch andere Visa gewährt worden, uruguayische, chilenische, was weiß ich. Sie könnten sich dann mit dem gleichen Recht an meine Kollegen wenden. Sie bekämen dieselbe Antwort, das müssen Sie doch begreifen.«
Ich mußte dem Vizekonsul recht geben. Ich ging beschämt weg. Seit meinem letzten Besuch war die Menge vor dem Gitter gewachsen. Unzählige glänzende Augenpaare richteten sich auf das Tor. Für diese Männer und Frauen war das Konsulat keine Behörde, ein Visum war kein Kanzleiwisch. In ihrer Verlassenheit, die von nichts übertroffen wurde als von ihrer Zuversicht, nahmen sie das Haus für das Land und das Land für das Haus. Ein unermeßliches Haus, in dem ein Volk wohnte, das sie einlud. Hier war die Tür des Hauses in der gelben Mauer. Und einmal hinter der Schwelle, war man bereits zu Gast.
Als ich zum letztenmal durch diese Menge durchging, regte sich alles in mir, was imstande ist, mit den anderen zu hoffen und zu leiden, und jener Teil meines Ichs duckte sich, der aus der Verlassenheit eine Art von kühnem Genuß macht und aus den eigenen und fremden Leiden nur Abenteuer.
Darauf beschloß ich, den Handkoffer für mich selbst zu benutzen, da mein Rucksack zerrissen war. Ich stopfte mein bißchen Zeug hinein, die Papiere des Toten zuunterst. Vielleicht kam ich wirklich noch einmal selbst nach Marseille. Wir mußten ohne Erlaubnis der Deutschen über die Demarkationslinie. Wir trieben uns ein paar Tage langunschlüssig in den Landstädtchen vor der Grenze herum; sie wimmelten alle von deutschen Soldaten. Wir fanden schließlich in einem Wirtshaus einen Bauer, der jenseits der Grenze ein Stück Land hatte. Er führte uns in der Dämmerung durch ein Tabakfeld. Wir umarmten und beschenkten ihn. Wir küßten den ersten französischen Posten, auf den wir stießen. Wir waren gerührt und fühlten uns frei. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, daß dieses Gefühl uns trog.
Zweites Kapitel
I
Sie kennen ja selbst das unbesetzte Frankreich aus dem Herbst 1940. Die Bahnhöfe und die Asyle und selbst die Plätze und Kirchen der Städte voll von Flüchtlingen aus dem Norden, aus dem besetzten Gebiet und der »verbotenen Zone« und den elsässischen und lothringischen und den Moseldepartements. Überreste von jenen erbärmlichen Menschenhaufen, die ich schon auf der Flucht nach Paris für nichts andres als Überreste gehalten hatte. Viele waren inzwischen auf der Landstraße gestorben oder in einem Waggon, aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß inzwischen auch viele geboren würden. Als ich mir einen Schlafplatz suchte im
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