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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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ertränkt! Auf einmal fiel mir, ich will gleich sagen, zu meinem Verhängnis, der Brief ein, den Paul mir gegeben hatte. Ich hatte merkwürdigerweise den Brief völlig vergessen; als sei der Handkoffer durch die Vorsehung an mich geraten. Vielleicht gab mir jetzt der Brief einen Hinweis, wohin mit allem.
    Er enthielt zwei Einlagen. Ein Schreiben vom mexikanischen Konsulat in Marseille, Herr Weidel sei eingeladen, herüberzufahren, Visum und Reisegeld lägen bereit.Hier folgten noch allerlei Angaben, Namen, Zahlen, Komitees, die ich damals übersprang.
    Ein Brief von derselben Frau, die ihm auf und davon war, dieselbe Handschrift. Ich achtete jetzt erst im Vergleichen auf die Schrift, eine enge reinliche Schrift, eine Kinderschrift, ich meine rein, nicht reinlich. Sie beschwor den Mann, nach Marseille zu fahren. Sie müsse ihn wiedersehn, sofort wiedersehn. Er dürfe keinen Augenblick zaudern, er müsse gleich nach Erhalt des Briefes sich mit ihr wieder vereinen auf welche Weise immer. Man brauche sicher noch sehr viel Zeit, um dieses verfluchte Land zu verlassen. Da könne das Visum auch ablaufen. Man habe zwar dieses Visum beschafft, man habe zwar die Reise bezahlt. Doch gebe es kein Schiff, das einen stracks zum Ziel bringe. Man müsse Zwischenländer durchfahren. Die Zwischenländer verlangten Transitvisen von einem. Die dauerten lange, die seien sehr schwer zu erringen. So könne denn alles, wenn man es nicht sofort gemeinsam betreibe, von neuem zugrunde gehn. Nur das Visum sei sicher. Und dieses auch nur auf Zeit. Jetzt gehe es um das Transit.
    Mir erschien der Brief etwas wirr. Was wollte sie plötzlich von dem Mann, den sie endgültig verlassen hatte? Mit ihm abfahren, da sie doch um keinen Preis bei ihm hätte bleiben wollen? In meinem Kopf entstand eine unklare Vorstellung, daß der Tote da manchen neuen Qualen entgangen war und frischen Verwicklungen. Und als ich den Brief noch einmal durchlas, den ganzen Mischmasch aus Wiedersehenswünschen und Transitvisen, aus Konsulaten und Überfahrtsdaten, erschien mir sein jetziger Aufenthaltsort vertrauenswürdig und seine Ruhe vollkommen.
    Ich wußte jetzt jedenfalls, wohin mit dem Koffer. Ich fragte am nächsten Tag einen Polizisten nach dem mexikanischen Konsulat. Der Konsul in Paris sollte alle Papiere dem Konsul in Marseille schicken. Die Frau würde dort nach Nachricht fragen. So stellte ich mir den Ablaufvor. Der Polizist sah mich auf meine Frage kurz an – ein Pariser Verkehrspolizist am Place Clichy –, er wurde hier sicher zum erstenmal nach dem mexikanischen Konsulat gefragt. Er suchte in einem roten Büchlein, in dem wohl die Konsulate verzeichnet standen. Er sah mich noch einmal an, als ob er erkunden wollte, was ich mit Mexiko zu tun hatte. Mich selbst hatte meine eigene Frage belustigt. Es gibt ja Länder, mit denen man schon aus der Knabenzeit her vertraut ist, ohne sie gesehen zu haben. Sie erregen einen. Gott weiß, warum. Eine Abbildung, ein Schlängelchen von einem Fluß auf einem Atlas, der bloße Klang eines Namens, eine Briefmarke. An Mexiko ging mich nichts an, nichts war mir an diesem Land vertraut. Ich hatte nie etwas über das Land gelesen, da ich auch als Knabe nur ungern las. Ich hatte auch über das Land nichts gehört, was mir besonders im Gedächtnis geblieben wäre. Ich wußte – es gab dort Erdöl, Kakteen, riesige Strohhüte. Und was es auch sonst dort geben mochte, es ging mich ebensowenig an wie den Toten.
    Ich schleifte den Handkoffer aus der Metro Place d’Alma nach der Rue Longuin. Eine hübsche Gegend, dachte ich. Die meisten Häuser waren geschlossen, das Viertel war fast leer. Die reichen Leute waren ja alle im Süden. Sie waren rechtzeitig abgereist, sie hatten gar nichts von dem Krieg gerochen, der ihnen ihr Land versengte. Wie sanft die Hügel von Meudon waren hinter der Seine! Wie blau war die Luft! Die deutschen Lastwagen rollten unaufhörlich das Ufer entlang. Zum erstenmal in Paris kam mir der Gedanke, auf was ich denn eigentlich hier warte. Viel welkes Laub lag auf der Avenue Wilson, der Sommer war schon dahin, dabei war kaum August. Ich war um den Sommer betrogen worden.
    Das mexikanische Konsulat war ein kleines, hellgestrichenes Haus, es stand ganz eigentümlich im Winkel zu einem bepflanzten, schön gepflasterten Hof. In Mexiko gab es wohl solche Höfe. Ich schellte an dem Gitter. Das hohe, einzige Fenster war verschlossen. Über der innerenTür hing ein Wappenschild. Ich konnte nicht recht klug daraus

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