Transit
kleines Gesicht mit dem schiefgezogenen Mund und den hellen Augen, die über die eigene Gebrechlichkeit spotteten. Irgend etwas war mir verlorengegangen, so verloren, daß ich nicht einmal mehr genau wußte, was es gewesen war, daß ich es nach und nach nicht einmal mehr richtig vermißte, so gründlich war es verlorengegangen in all dem Durcheinander. Eines dieser alten Gesichter aber, das wußte ich, würde es mir doch wenigstens ins Gedächtnis zurückbringen.
Ich war und blieb allein. Marcel trennte sich von mir, und ich fuhr allein nach Marseille.
III
Man hatte mir unterwegs erzählt, den gerissenen Häschern, die im Bahnhof von Marseille zum Menschenfang aufgestellt seien, könne kein Fremder durchs Netz gehen. Mein Vertrauen zu Yvonnes Flüchtlingszettel war keineswegs unbegrenzt. Ich stieg zwei Stunden vor Marseille aus dem Zug, ich stieg auf einen Autobus. Auch aus dem Autobus stieg ich aus in einem Dorf in den Bergen.
Ich kam von oben her in die Bannmeile von Marseille. Bei einer Biegung des Weges sah ich das Meer tief unten zwischen den Hügeln. Etwas später sah ich die Stadt selbst gegen das Wasser. Sie erschien mir so kahl und weiß wie eine afrikanische Stadt. Ich wurde endlich ruhig. Die große Ruhe kam über mich, die dann immer über mich kommt, wenn mir etwas sehr gut gefällt. Ich glaubte beinah, ich sei am Ziel. In dieser Stadt, glaubte ich, müßteendlich alles zu finden sein, was ich suchte, was ich immer gesucht hatte. Wie oft wird mich dieses Gefühl noch trügen bei dem Einzug in eine fremde Stadt!
Ich stieg bei der Endhaltestelle auf eine Elektrische. Unbehelligt fuhr ich ein. Ich zottelte zwanzig Minuten später mit dem Handkoffer über die Cannebière. Meistens ist man enttäuscht von Straßen, von denen man viel gehört hat. Ich aber, ich war nicht enttäuscht. Ich lief mit der Menge hinunter im Wind, der Licht und Schauer über uns trieb in rascher Folge. Und meine Leichtigkeit, die vom Hunger herrührte und von Erschöpfung, verwandelte sich in eine erhabene, großartige Leichtigkeit, wie geschaffen für den Wind, der mich immer schneller die Straße hinunterblies. Wie ich begriff, daß das, was blau leuchtete am Ende der Cannebière, bereits das Meer war, der Alte Hafen, da spürte ich endlich wieder nach soviel Unsinn und Elend das einzige wirkliche Glück, das jedem Menschen in jeder Sekunde zugänglich ist: das Glück, zu leben.
Ich hatte mich in den letzten Monaten immer gefragt, wohin denn das alles münden sollte, das ganze Rinnsal, der Abfluß aus allen Konzentrationslagern, versprengte Soldaten, die Söldner aller Heere, die Schänder aller Rassen, die Fahnenflüchtigen aller Fahnen. Hier also floß alles ab, in diese Rinne, die Cannebière, und durch diese Rinne ins Meer, wo endlich für alle wieder Raum war und Friede. Ich trank, meinen Handkoffer zwischen die Beine geklemmt, einen Kaffee im Stehen. Ich hörte um mich herum ein Gerede, als stünde die Theke, vor der ich trank, zwischen zwei Pfeilern des Turmes von Babel. Doch schlugen beständig einzelne Worte an mein Ohr, die schließlich auch ich verstand, in einem bestimmten Rhythmus, als sollten sie mir eingeprägt werden: Kuba-Visa und Martinique, Oran und Portugal, Siam und Casablanca, Transit und Dreimeilenzone.
Ich kam glücklich am Alten Hafen an – zu der gleichenStunde wie heute. Er lag durch den Krieg fast verödet da – wie jetzt. Wie jetzt glitt die Fähre langsam unter der Eisenbahnbrücke hin. Doch mir kommt es heute vor, als hätte ich alles zum erstenmal gesehen. Die Rahen der Schifferboote durchschnitten die großen kahlen Flächen uralter Häuser – wie jetzt. Die Sonne ging unter hinter dem Fort Saint-Nicolas. Ich dachte nach Art sehr junger Leute, daß alles, was mir geschehen sei, mich hierher geführt hatte, und damit war es gut gewesen. Ich fragte mich durch nach der Rue du Chevalier Roux. Dort wohnte der Vetter Georg Binnet. Die Menschen drängten sich in den Basaren und in den Straßenmärkten. Es war schon dämmrig in diesen Höhlen von Gassen, und um so stärker glühte das Obst in Rot und Gold. Ich spürte einen Geruch, den ich nie im Leben gerochen hatte. Ich suchte die Frucht, aus der es kam, ich fand sie nicht. Ich setzte mich, um ein wenig zu rasten, auf den Rand des Brunnens im korsischen Viertel, den Handkoffer auf den Knien. Dann stieg ich die steinerne Treppe hinauf, von der ich noch nicht wußte, wohin sie führte.
Das Meer lag unter mir. Die Arme der Leuchtfeuer auf der
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