Transit
fragte aus Höflichkeit, was er selbst vorhabe. Er sei Kapellmeister in Prag gewesen, jetzt habe man ihmeine Stelle verschafft bei einer berühmten Kapelle in Carácas. Ich fragte ihn, wo das liege, er erwiderte spöttisch, das sei die Hauptstadt von Venezuela. Ich fragte ihn, ob er Söhne habe; er erwiderte, ja und nein, sein ältester Sohn sei in Polen verschollen, sein zweiter in England, sein dritter in Prag. Er könne jetzt nicht mehr länger auf Lebenszeichen von Söhnen warten, sonst sei es für ihn zu spät. Ich glaubte, er meine den Tod. Er meinte aber die Kapellmeisterstelle, die mußte er vor dem neuen Jahr antreten. Er hatte schon einmal einen Kontrakt besessen, auf den Kontrakt ein Visum, auf das Visum das Transit. Die Gewährung des Visa de sortie habe aber so lange gedauert, daß ihm inzwischen das Transit erloschen sei, darauf das Visum, darauf der Kontrakt. Letzte Woche habe man ihm das Visa de sortie gewährt, er warte jetzt Tag und Nacht auf die Verlängerung des Kontraktes, die ja dann ihrerseits die Verlängerung seines Visums bedinge. Die aber sei die Vorbedingung für die Gewährung des neuen Transits. Ich fragte verwirrt, was das bedeute: Visa de sortie? Er starrte mich entzückt an. Ich war ein unwissender Neuankömmling. Ich nahm ihm viele Minuten Einsamkeit ab durch die Möglichkeit einer langen Erklärung. Er sagte: »Das ist die Erlaubnis, Frankreich zu verlassen. Hat Sie denn niemand unterrichtet, armer junger Mann?« – »Welchen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?«
Darauf lachte er, daß ihm die Kiefer knirschten. Mir kam es vor, sein ganzes Gerippe knirschte. Er tickte mit einem Handknöchel auf den Tisch. Er war mir ziemlich zuwider. Ich hielt aber bei ihm aus. Es gibt im Leben der verlorensten Söhne Augenblicke, wo sie auf die Seite der Väter übergehen, ich meine der Väter anderer Söhne.
Er sagte: »Sie wissen doch wenigstens eins, mein Sohn, daß jetzt die wirklichen Herren die Deutschen sind. Und da Sie vermutlich selbst aus diesem Volke stammen, sowissen Sie auch, was die deutsche Ordnung bedeutet, die Naziordnung, die sie jetzt alle hier rühmen. Sie hat nichts zu tun mit der Weltordnung, mit der alten. Sie ist eine Art von Kontrolle. Die Deutschen lassen sich nicht die Gelegenheit nehmen, die Menschen durchzukontrollieren, die aus Europa abziehen. Sie finden vielleicht dabei irgendeinen jahrzehntelang gesuchten Störenfried.«
»Gut. Gut. Wenn ihr aber nun kontrolliert seid, wenn ihr ein Visum habt, was hat das für eine Bedeutung mit dem Transit? Warum läuft es überhaupt ab? Was ist es überhaupt? Warum läßt man die Leute nicht durchziehen nach ihren neuen Wohnstätten?« Er sagte: »Mein Sohn, weil sich alle Länder fürchten, daß wir statt durchzuziehen, bleiben wollen. Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, daß man nicht bleiben will.«
Er änderte plötzlich seine Haltung. In einem neuen, höchst feierlichen Ton, den Väter nur dann gebrauchen, wenn sie die Söhne endgültig ins Leben hinausschicken, sprach er mich folgendermaßen an: »Junger Mensch! Sie kommen hierher fast ohne Gepäck, allein, ohne Ziel. Sie haben noch nicht einmal ein Visum. Sie machen sich keine Gedanken, daß selbst der Präfekt Sie keineswegs wohnen läßt, wenn Sie nicht einmal ein Visum haben. Nun, nehmen wir an, durch irgendeinen Glücksfall, durch eigene Kraft, was selten, aber immerhin vorkommt, vielleicht auch durch eine Freundeshand, die sich Ihnen aus dem Dunkel, will sagen, über den Ozean, entgegenstreckt, wenn Sie sie am wenigsten erwarten, vielleicht durch die Vorsehung selbst, vielleicht durch ein Komitee, erhalten Sie ein Visum. Da sind Sie einen Augenblick glücklich. Doch sehr rasch merken Sie, daß damit gar nichts getan ist. Sie haben ein Ziel – das ist wenig. Das hat jeder. Sie können nicht bloß durch den Willen, bloß durch die Stratosphäre in jenes Land kommen, Sie fahren durch Meere, durch Zwischenländer. Sie brauchen ein Transit. Das braucht Ihren Scharfsinn. Ihre Zeit. Sie ahnen nochnicht, wieviel Zeit! Bei mir, da eilt es. Doch wenn ich Sie ansehe, scheint es mir plötzlich, für Sie ist die Zeit noch kostbarer. Sie ist ja die Jugend selbst. Sie dürfen sich aber nicht zersplittern, Sie dürfen nur an Ihr Transit denken. Sie müssen, wenn ich so sagen darf, Ihr Ziel eine Zeitlang vergessen,
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