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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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jetzt gelten nur die Zwischenländer, sonst wird aus der Abfahrt nichts. Jetzt gilt es, den Konsuln klarzumachen, daß es Ihnen ernst ist, daß Sie keiner von jenen Burschen sind, die an den Orten festbleiben wollen, die nur zum Durchfahren da sind. Und dafür gibt es Beweise, jeder Konsul verlangt sie. Nun nehmen wir einmal den Glücksfall an, der ein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie viele abfahren wollen auf wie wenig Schiffen, Ihr Schiffsplatz als solcher, die Fahrt als solche sei gesichert. Wenn Sie Jude sind, aber Sie sind ja keiner, nun, durch die Juden, wenn Sie Arier sind, nun, durch christliche Hilfe, wenn Sie gar nichts sind, gottlos, rot, nun dann in Gottes Namen durch Ihre Partei, durch Ihresgleichen. Sie könnten sich irgendwie einschiffen. Doch glauben Sie ja nicht, mein Sohn, daß damit Ihr Transit schon sicher sei, und selbst, wenn es sicher wäre! Inzwischen ist soviel Zeit vergangen, daß wieder das erste, das Hauptziel entschwunden ist. Dein Visum ist abgelaufen, und wie auch das Transit notwendig war, es ist wieder gar nichts ohne das Visum, und so immer weiter, immer weiter, immer weiter.
    Nun stell dir vor, du hast es erreicht. Mein Sohn, gut, träumen wir jetzt gemeinsam, du hast es erreicht. Dein Visum, dein Transit, dein Visa de sortie. Du bist reisefertig. Du hast dich von deinen liebsten Menschen verabschiedet. Dein Leben hinter dich geworfen. Du denkst jetzt nur an das Ziel. Du willst endgültig an Bord gehen –
    Ich sprach gestern einen jungen Mann, so alt wie du. Der hatte alles. Doch als er an Bord gehen wollte, verweigerte ihm das Hafenamt den letzten Stempel.«
    »Warum?«
    »Er war aus einem Lager geflohen, als die Deutschenkamen«, sagte der alte Mann in seinem früheren müden Ton; er war auch – nicht eigentlich zusammengesunken, dafür hielt er sich zu aufrecht, eher angeknickt. »Er hatte keinen Entlassungsschein aus dem Lager – so war denn alles für ihn umsonst.«
    Ich horchte auf. Der letzte Punkt immerhin berührte mich in diesem dunklen Gewirr mir völlig gleichgültiger Ermahnungen. Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas von einem Hafenstempel gehört. Ein beklagenswerter junger Mann! Doch schuldig aus Mangel an Voraussicht. Ich würde an diesem letzten Stempel nicht scheitern, ich war gewarnt. Ich würde aber auch niemals abfahren. Ich sagte: »Zum Glück kommt das alles für mich nicht in Betracht. Ich hab nur den einen Wunsch: eine Zeitlang hier in Ruhe zu bleiben.« Er rief: »Wie Sie sich täuschen! Ich sage Ihnen zum drittenmal: Man läßt Sie hier nur eine Zeitlang in Ruhe bleiben, wenn Sie nachweisen, daß Sie abfahren wollen. Verstehen Sie das nicht?« Ich sagte: »Nein.«
    Ich stand auf. Ich hatte ihn herzlich satt. Er rief mir nach: »Ihr Handkoffer!« Bei seinem Ausruf fiel mir etwas ein, was ich wochenlang vergessen hatte: die Briefschaften jenes Mannes, der sich das Leben genommen hatte in der Rue de Vaugirard beim Einmarsch der Deutschen in Paris. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, den Koffer als den meinen zu betrachten. Die schmale Hinterlassenschaft des Toten nahm den kleinsten Raum ein unter meinem eigenen Wust. Ich hatte sie vollkommen vergessen. Ich konnte jetzt alles selbst zu dem Konsul tragen. Die Frau des Toten würde dort sicher nach Post fragen. Mir ging durch den Kopf, wieso etwas, was mich noch in Paris dermaßen beherrscht hatte, sich vollständig hatte verflüchtigen können. Aus diesem Stoff war also der Zauber des Toten gemacht! Vielleicht aber war das auch nur ich, der aus diesem Stoff gemacht war, der sich verflüchtigte.
    Ich begab mich abermals auf die Zimmersuche. Ichstieß auf einen riesigen formlosen Platz mit drei beinahe dunklen Seiten und einer vierten von Lichtern punktierten, die wie eine Küste aussah. Das war der Belsunce. Ich strebte gegen die Lichter zu, darauf verlor ich mich wieder in einem Netz von Gassen. Ich stieg durch die erste beste Hoteltür eine steile Treppe hinauf zu dem hellen Fenster der Wirtin. Ich war auf ein »Alles besetzt« gefaßt, doch schob mir diese Wirtin sofort ihr Anmeldebuch hin. Sie sah scharf zu, wie ich meinen Flüchtlingsschein abschrieb. Sie fragte mich nach meinem Sauf-conduit, ich zögerte. Sie lachte und sagte: »Ihr Pech, nicht meines, wenn die Razzia kommt! Sie zahlen mir jetzt für die Woche im voraus. Sind ja ohne Erlaubnis hier. Sie hätten zuerst die Erlaubnis unseres Präfekten einholen müssen, um nach Marseille zu kommen. In welches Land wollen Sie denn fahren?« Ich

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