Transsibirien Express
dachte an Mildas nächtlichen Streifzug durch die Wagen und winkte ab. »Was wird man schon gestohlen haben?« fragte er leichthin, »Brot, eine Gurke, Zwiebeln, Wurst … Man sollte nicht darüber reden, Genosse Schaffner.«
»Zwiebeln und Gurken? Wo denken Sie hin, gospodin!« Mulanow strich seinen sich sträubenden Schnurrbart glatt. »Einer Dame im Wagen zwei fehlt ein Ohrring! Im Schlaf aus dem Ohr montiert, ein Skandal! Und einem Herrn haben die Halunken die Schuhe gestohlen! Neue Schuhe, erst eine Woche getragen! Jetzt sitzt er auf seinem Platz in Strümpfen und ist bis ins Herz hinein erschüttert! Soll er barfuß in Tschita den Zug verlassen? Wir werden eine Untersuchung durchführen, der Zugleiter Vitali Diogenowitsch und mein Kollege Wladlen Ifanowitsch! Wie peinlich, zu jedem zu sagen: Genossen, öffnen Sie die Koffer und zeigen Sie die Schuhe her! Und der Bestohlene, ein Mann namens Dementi Michailowitsch Skamejkin, muß auf Strümpfen mitlaufen und alle Schuhe begutachten! So etwas hat es im Transsib noch nicht gegeben! Ein böser Zug diesmal, sag' ich, gospodin.« Er blickte sich um. »Wo ist Milda?«
»Bei Klaschka. Anschließend wollte sie zu Ihnen …«
»Dann muß ich mich beeilen.« Mulanow grüßte stramm und schob die Tür zu.
Forster lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster.
Wald … Wald … Wald … Und in ihn hineingeschlagen der doppelgleisige Schienenstrang wie eine endlose Narbe. Sonst nur weiße Einsamkeit, vollkommene Stille, im Frost erstarrter Schnee, der die Bäume überzieht wie ein bizarrer Zuckerguß. Ein schöner Tag!
Die blanke kalte Sonne ließ das Land bläulich glitzern, als sei es überpudert mit gemahlenen Diamanten. Der wolkenlose blaue Himmel war so grenzenlos, wie es nur ein Himmel über Rußland sein kann.
Sibirien!
Auch wer es haßt, muß es doch mit ganzem Herzen lieben. Die Leidenschaft dieser Haßliebe bleibt das ewige Geheimnis der Taiga …
Karsanow kam zurück. Er hatte sich im Speisewagen über Fedja und den Koch geärgert.
Es war das alte Leiden: das Frühstück war programmiert, eingeplant, es rollte reibungslos ab. Aber wehe, wenn man etwas nachbestellte!
Eine Scheibe Brot vielleicht, ein Stückchen Käse oder gar ein Ei! Man kann als Astronaut eher den Mond erreichen als ein zusätzliches Ei im Speisewagen der Transsib! Und noch dazu mit dem Wunsch nach vier Minuten Kochzeit!
Die Küche brach zusammen, als Karsanow nicht nur ein Ei, sondern auch noch eine Scheibe Dauerwurst und Honig für das Süßen des wirklich guten Tees verlangte.
Als er alles nach zwanzig Minuten endlich erhielt, war das Ei so hart wie ein Stein und die Wurst wölbte sich traurig auf dem Teller. Den Honig bekam er nie.
Fedja, den er fünfmal angebrüllt hatte, ließ sich nicht mehr blicken; er blieb in einem Verschlag hinter der Küche verborgen, bis sich Karsanow entfernt hatte.
»Wo ist Milda?« fragte auch er, als er das Abteil betrat.
Forster zündete sich gerade eine Zigarette an und hielt Karsanow die Packung hin. Der zögerte, griff aber dann doch zu und betrachtete die Marke.
»Milda ist zu Mulanow gegangen«, antwortete Forster.
»Zustände sind das! Beamte spielen Zuhälter … Eine amerikanische Zigarette?«
»Ja.«
»Parfümiert wie ein Dirnenhintern!«
»Sie können sie gern aus dem Fenster werfen, Pal Viktorowitsch!«
»Was werde ich? Sie wird geraucht! Nachher rauchen Sie eine von mir. Eine kraftvolle sowjetische Zigarette!«
Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber, rauchten, sahen hinaus in die Taiga und stellten fest, daß der Zug langsamer fuhr.
Über den Schienen war Schnee geweht, und die Lok drückte ihn mit einer Spezialvorrichtung, die einem großen Schild glich, zur Seite.
»Haben Sie sich's überlegt?« fragte Karsanow plötzlich.
»Was?« fragte Forster zurück und drückte die Zigarette aus. Karsanow rauchte die seine bis zur letzten Möglichkeit, er klemmte den Stummel noch zwischen die Fingernägel.
»Sie wollen diese Milda wirklich bis Wladiwostok in unserem Abteil beherbergen?«
»Ich habe meine Absicht nicht geändert, Pal Viktorowitsch.«
»Sie wollen also schamlos vor meinen Augen …«
»Durchaus nicht! Machen wir es doch so: Ich sage Ihnen vorher Bescheid, dann können Sie hinausgehen!«
»Das ist eine unerhörte Zumutung, wissen Sie das?« Karsanow schnaufte durch die Nase. »Gerade von Ihnen als Deutscher hätte ich mehr Kultur erwartet.«
»Danke, aber noch sind die Menschen nicht alle gleich. Ich bin
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