Transsibirien Express
Mitreisenden hockten betrübt auf den Sitzen, die, umgeklappt, in der Nacht Betten gewesen waren. »Soll es soweit kommen, daß man einem die Unterhose vom Leibe zieht?«
»Beruhigen Sie sich!« rief der eingestiegene Polizist und hob energisch die Hand.
Mulanow warf einen verzweifelten Blick auf seinen Zugführer Vitali Diogenowitsch.
Sein Kollege Wladlen Ifanowitsch war zu Wagen zwei gerufen worden, wo im Abteil vier die bestohlene Dame von dem Augenblick an, wo sie die Miliz gesehen hatte, keine Luft mehr bekam und immer nur stöhnte: »Mein Ohrring! Ein Erbstück war's durch vier Generationen! Wer hilft mir? Ich bin die arme Witwe eines Generals …«
»Gehen wir systematisch vor!« sagte der Polizist zu Skamejkin und holte ein Notizbuch aus dem Uniformrock. »Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie? Zeigen Sie mir Ihren Paß!«
»Bin ich der Dieb?« brüllte Skamejkin. »Werde ich auch noch verhört, als hätte ich eine Bombe in den Kreml geworfen! Hier …«
Er lehnte sich gegen die Wand und hob ein Bein hoch. Die Sockensohle war schmutzig.
Anscheinend wurde der Zug nicht so gründlich gesäubert, wie es sein sollte. Mulanow besah sich die Sohle und blickte dann erschüttert weg.
»Ist das ein Tatbestand? Jemand hier im Zug hat meine Schuhe! Nehmen Sie zur Kenntnis: ich bin der Direktor einer Seifenfabrik! Mit meiner Seife wäscht sich Breschnew die Hände!«
»Er hat recht«, bestätigte der Polizist und blickte Mulanow und den Zugführer Vitali ernst an. »Der Dieb muß noch im Zug sein! Ausgestiegen ist niemand, und wer springt schon mitten in der Taiga ab wegen dieser lumpigen Schuhe …«
»Es waren keine lumpigen, es waren wundervolle Schuhe!« Skamejkin ließ das Bein sinken. »Was werden Sie tun, Genossen?«
»Was werden wir tun?« Der Polizist blickte auf seine Armbanduhr. »Der Zug kann nur zehn Minuten halten. Ich muß wieder hinaus. Einen Befehl zum Mitfahren habe ich nicht.«
»Sie sollen nicht mitfahren, Genosse«, schrie der arme Dementi Michailowitsch, während er seine Arme empört vorstreckte. »Sie sollen mir meine Schuhe wiederbeschaffen! Ich habe kein zweites Paar mit. Wer reist mit einem Sack voller Schuhe, wenn er nur zu einer Besprechung will? Soll ich vielleicht in Strümpfen durch Tschita laufen?«
»In Tschita gibt es auch Schuhe«, sagte der Milizionär weise.
»Und wer bezahlt sie, he? Ich? Nie! Nie, Genossen! Ich schlafe in einem staatlichen Zug, ich werde in einem staatlichen Zug bestohlen – der Staat muß für den Schaden aufkommen! Ist das klar?«
So klar war das nicht.
Auf keinen Fall konnte das der Polizist entscheiden, und es war auch niemand da, der Skamejkin die Rubel für neue Schuhe geben konnte. Und wenn jemand zugegen gewesen wäre, der zuständig war, dann hätte man erst einen Berg Formulare auszufüllen.
Geht das alles in zehn Minuten – bei einem außerplanmäßigen Aufenthalt auf einer einsamen Taigastation?
Vom Wagen zwei kam der Schaffner Wladlen Ifanowitsch gelaufen. Er war bleich und bebte am ganzen Körper.
Zu allem Überfluß stieß die Lokomotive einen gellenden Ton aus, der bedeutete: Weiterfahren, Genossen! Wir werden zwischen Irkutsk und Wladiwostok noch genug Verspätung bekommen. Die Amurstrecke soll völlig zugeweht sein. Schneestürme, daß man das Beten wieder lernen könnte! Wir müssen weiter, Genossen!
»Die Dame bekommt einen Schreikrampf!« rief Wladlen. »Der verfluchte Ohrring! Man will ihn schon beim Zaren getragen haben! Als ob das ein Argument wäre! Ein Ohrring aus der Zeit der Knechtschaft! Aber die Dame ist die Witwe eines Generals, das kompliziert alles. Olga Federowna Platkina heißt sie. Richtig, die Frau des Generals Platkin! Sie verlangt, daß ich jeden Reisenden ausziehe und den verdammten Ohrring suche!«
»Und ich verlange meine schönen neuen Schuhe!« brüllte Skamejkin. »Der Zug darf nicht weiterfahren! Gibt es hier an diesem Ort keinen anderen Beamten als diesen Idioten?« Das war ein Fehler.
Der Polizist zuckte zusammen, als habe ihn eine Tarantel gestochen. Er stierte alle Genossen wild an, klappte sein Notizbuch zu und riß die Waggontür auf.
»Weiterfahren!« rief er kalt und voller Verachtung. »Ein Paar Schuhe berechtigen niemand, Beamte zu beleidigen!«
Er sprang in den Schnee und schlug die Tür zu, ehe Skamejkin erneut losschreien konnte.
Tatsächlich ruckte der Zug wieder an, wurde schneller und verließ die einsame Taigastation, an der sonst nur Holzzüge hielten oder die Kleinbahn, mit der die
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