Transsibirien Express
trug? Im Gegensatz zu den Schaffnern gab er weise Sprüche von sich und brachte damit Karsanow zur Verzweiflung.
»Wir hatten einen Oberst im Generalstab«, erzählte der General beispielsweise, »der stellte sich, mit dem Kopf nach unten, an die Wand, bevor er ans Schachbrett ging. Eine Art Yoga-Übung. Blut im Gehirn ist die halbe Intelligenz, behauptete er immer. Dabei verlor er regelmäßig! Haha!«
Karsanow brauchte alle Kraft, um nicht zu explodieren. »Schluß!« sagte er nach dem siebenten Spiel. »Nun wird zu Abend gegessen und geschlafen! Wissen Sie eigentlich, Genossen, wie lange wir jetzt auf den Beinen sind? Das gleicht ja einem Kriegseinsatz! Morgen früh geht es weiter, einverstanden, Werner Antonowitsch?«
»Ihr Wort gilt, Pal Viktorowitsch?«
Karsanow sah Forster aus geröteten müden Augen beleidigt an.
»Ich bin ein Ehrenmann! Natürlich gilt es! Bis Wladiwostok halten Sie nicht durch! Noch drei Spielchen, Werner Antonowitsch … ich nehme an, daß wir Milda Tichonowna bereits in Chabarowsk ausladen!«
Er stand auf, reckte sich, daß man die Glieder deutlich knacken hörte, und verbeugte sich vor Forster.
»Darf ich Sie zum Essen einladen?« fragte er.
»Und Milda?«
»Das ist Ihre Sache! Ich lade doch niemanden ein, den ich nicht kenne und in Kürze verhaften werde!«
Es wurde trotzdem ein gutes Abendessen.
Man servierte geräucherten Stör, vorweg eine Muschelsuppe, als Fleischgang eine knusprige Hühnerbrust und als Dessert einen Obstsalat mit Eis und Sahne.
Der General, der mit ihnen am Tisch saß, erzählte von der Panzerschlacht bei Gomel, die er als junger Oberleutnant mitgemacht hatte. Karsanow hatte den gemeinen Gedanken, wie schade es sei, daß die Panzer an dem General vorbeigefahren seien, statt über ihn hinweg …
In der Nacht schliefen sie wie die Betäubten.
Nur Milda war diesesmal wach, sie küßte Forsters im Schlaf gelöstes Gesicht, flüsterte ihm zärtliche Worte zu, legte sich eng neben ihn und streichelte mit beiden Händen seinen entblößten Oberkörper. Es war sehr heiß im Abteil.
Karsanow schnarchte wie ein Flußpferdbulle und zuckte ab und zu mit den Beinen. Anscheinend träumte er von einer Schachpartie, aus der er nicht mehr herauskam, wie bei Hauptmann Plotkin.
Bei strahlendem Sonnenschein erreichten sie Chabarowsk.
Nahebei fließt der Ussuri in den Amur. Hier ist eine Riesenstadt entstanden mit einer Universität, mit bekannten Kliniken und mit der Verwaltung eines erschlossenen Kohlengebietes von gewaltigen Ausmaßen.
Was Sibiriens Schoß an Reichtum verborgen hält … hier kann man einen kleinen Teil davon sehen.
Wenn es jemals gelang, Sibirien nutzbar zu machen, gab es kein reicheres Land als Rußland. Und kein unbesiegbareres! Das ewige Rußland – es war kein Traum. Die Wahrheit sah man hier in Chabarowsk, im südlichsten Winkel Sibiriens.
Karsanow und Forster spielten die achte Partie. Verbissen, fanatisch fast. Jeder kämpfte gegen die Zeit … dem einen lief sie davon, dem anderen kam sie entgegen.
»Gratuliere!« sagte Karsanow, als sie in die gewaltige Bahnhofshalle von Chabarowsk einfuhren und das achte Spiel noch nicht entschieden war. »Das haben Sie geschafft, Werner Antonowitsch. Die nächste Station ist Bikin – da habe ich Sie! Noch zwei Spiele! Jetzt liege ich mit einem vorn! Aber dieses achte gewinne ich auch. Dann müssen Sie die beiden letzten gewinnen! Was dann? Was bedeutet Remis in unserem Fall?«
»Freiheit für Milda!«
»Wieso? Ein Unentschieden ist kein Sieg! Es stellt ein normales Verhältnis wieder her! Ich werde Milda mitnehmen, wie es mir als Beamter befohlen ist!«
»Sie werden nicht gewinnen«, sagte Forster heiser. »Wann sind wir in Wladiwostok?«
»Am späten Nachmittag! Sie können nicht mehr gewinnen, Werner Antonowitsch. Die achte Partie steht schlecht für Sie …«
Was für ein Mensch Karsanow auch sein mochte, eines mußte man ihm zubilligen: er war ein meisterhafter Schachspieler!
Im Geheimen war es ja ein Duell zwischen ihm und Milda, die immer noch ihren vorgeschobenen Spieler mit Streicheln oder Kneifen dirigierte.
Es gab Züge, vor denen brüteten sie eine Viertelstunde.
Karsanow stand zwischendurch auf, trank seine Milch oder holte tief Luft in dem weniger geheizten Gang.
Dann waren meistens Mulanow oder einer der Schaffner im Abteil und erteilten Ratschläge, oder der General klemmte sich auf Karsanows Platz, zog das Kinn an und brummte: »Ich würde jetzt den Turm nehmen! Nur den
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