Transsibirien Express
Turm! Eine glatte Attacke! Aber Pal Viktorowitsch ist leider Zivilist! Man kann ihn nicht davon überzeugen.«
Natürlich wäre eine Attacke für Karsanow tödlich gewesen … jeder sah das. Beim nächsten Zug wäre der Turm verloren gewesen, beim übernächsten gäbe es Matt.
Chabarowsk glitt an ihnen vorbei. Sie glaubten, in der Ferne den Amur und den Ussuri bläulich in der silbernen Sonne schimmern zu sehen.
Gebirgskämme flimmerten im Licht, weit am Horizont. Es war ein herrlich klarer Wintertag, eisig kalt, aber überwölbt von einem makellos blauen, wolkenlosen Himmel.
Die achte Partie gewann Forster.
Aufatmend lehnte er sich zurück, und auch Milda schloß für einen Augenblick die Augen.
Mulanow seufzte leise.
Karsanow starrte auf das Brett. Er schien es nicht begreifen zu können, was ihm da widerfahren war.
»Sie sind ein Satan, Werner Antonowitsch!« sagte er endlich. »Nun ist wieder alles offen! Jeder von uns ist gezwungen, die beiden letzten Partien zu gewinnen!«
»Ich allein, Pal Viktorowitsch. Unentschieden bedeutet für mich den Verlust von Milda! Eine Frage noch: Was geschieht, wenn wir in Wladiwostok das letzte Spiel noch nicht beendet haben?«
»Dann tragen wir das Brett vorsichtig in den Wartesaal und spielen dort weiter! Ich halte mein Wort bis zum Umfallen, mein Bester. Das bin ich meiner russischen Ehre schuldig!«
»Einverstanden!«
Sie erholten sich etwas, gingen im Zug spazieren, tranken im Speisewagen einen Kognak – sogar Karsanow trank einen, allerdings stark mit Sprudel verdünnt. Dann nahmen sie wieder ihre Plätze ein.
Die neunte Partie.
Es war wirklich eine Schlacht.
XIII
Kurz vor Iman, einer kleinen Station, war das verbissene Duell eigentlich schon entschieden.
Forster hatte die neunte Partie verloren.
Karsanow hatte einen wahren Husarenritt vollführt.
Und die zehnte und letzte Partie stand ausgesprochen schlecht für das Paar. Mildas Nerven versagten. Sie hielt diese Anspannung nicht durch, und Forster saß oft hilflos vor den Figuren und konnte kaum noch auf Mildas Kneifen oder Streicheln achten.
Karsanow, anscheinend ein Mensch völlig ohne Nerven, war in Hochstimmung. Er brauchte eigentlich nicht mehr weiterzuspielen – es war alles klar!
Tat er es trotzdem, so nur deswegen, weil ein echter Schachspieler nie eine Partie offen läßt … es müßten ihn schon ganz gravierende Gründe dazu zwingen.
Mulanow rannte herum als habe man ihn mit glühenden Nadeln gespickt.
»Ich habe es geahnt!« sagte er mit schwankender Stimme zu Forster, als sie sich auf dem Gang trafen. »Es war Wahnsinn! Wahnsinn! Karsanow ist ein Spieler mit einem Computergehirn! Er berechnet die gegnerischen Züge im voraus nach ihrer Wahrscheinlichkeit! Was nun, Werner Antonowitsch? Was nun? Er wird Milda schon in Iman ausladen lassen! Im Vertrauen, er hat mir schon die Meldung durchgegeben, die ich zur Miliz in Iman telefonieren soll. So sicher ist sich dieser Kerl! Sie müssen schnell etwas tun, was, das weiß ich nicht …«
Forster kam zurück ins Abteil.
Karsanow saß, nach hinten gelehnt, und hatte die Augen geschlossen. Er schlief nicht, sondern er befand sich in einem Zustand der wohligsten Ruhe.
Er hörte alles, was um ihn herum geschah, aber er war zu faul, die Augen zu öffnen. Es war das erstemal, daß er deutlich zeigte, wie ihn dieses Duell am Schachbrett doch mitgenommen hatte.
»Wenn's weitergehen soll, sagen Sie es«, meinte er, immer noch mit geschlossenen Augen. »Noch vier Züge, und Sie haben Ruhe vor mir. Und ich vor Ihnen!«
»Ich gebe zu, daß die Lage kritisch ist.« Forster holte seine Reisetasche aus der Gepäckablage. Mit großen Augen starrte ihn Milda an. »Aber Sie kennen ja den dummen Spruch: ›Bis zur letzten Patrone!‹ – Ich habe diese Art von Heldentum bisher immer für ein Verbrechen gehalten. Heute begreife ich mehr davon! Wenn man den Einsatz liebt …« Karsanow lächelte schwach. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Welch ein Tag!
»Nehmen Sie Abschied von Milda, Werner Antonowitsch«, sagte er nun mit satanischer Freundlichkeit. »Wir erreichen gleich Iman …«
»Ich bin gerade dabei, Pal Viktorowitsch!«
Karsanow hielt noch immer die Augen geschlossen.
Werner Forster öffnete die Reisetasche und holte den Lederkasten mit der Reiseapotheke heraus. Mit ihr hatte er Karsanow einmal geholfen, als ihm der herunterfallende Koffer die Nackenwunde schlug … mit ihr würde er jetzt Milda retten!
Es war eine feige Tat, aber es blieb ihm
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