Transsibirien Express
mit geschnitzten Friesen, mit Holzschindeln auf den Dächern und Knüppelzäunen um die Gärtchen.
Tschita, der Eisenbahnknotenpunkt in Süd-Sibirien. Die Pforte aller Verbannten zur Zarenzeit.
Tschita, an der Ingoda gelegen, Jahrhunderte lang am Leben gehalten durch die nie abreißenden Kolonnen der aneinandergeketteten Verurteilten, der auf ewig Verdammten, der ›Toten Seelen‹.
Tschita: Hier hatten Bettler und Fürsten gestanden und über das weite Land geblickt, in das sie verbannt worden waren und das sie nie wieder hergeben würde; hier hatten Minister und Generäle, Bauern und Diener, Fuhrleute und Handwerker, hier hatte halb Rußland in der Sonne oder im Schneesturm gestanden und hatte laut oder leise gebetet:
»Gott im Himmel, hier hilft uns kein Gebet mehr …«
Tschita, eine Stadt, die ertrunken wäre, wenn sich alle in ihr vergossenen Tränen gesammelt hätten.
Hier lud man Fedja aus, nachdem die Reisenden, deren Fahrt hier zu Ende war, den Zug verlassen hatten, und nachdem die neuen Reisenden zugestiegen waren.
Plotkin verabschiedete sich von Karsanow wie von einem alten, lieben Freund. Schach verbindet eben nicht nur die Völker, sondern sogar Miliz und KGB!
Fedjas Abtransport ging ohne Sensation vonstatten: zwei Milizionäre führten ihn ab und er ging strammen Schrittes mit. Er wirkte, als sei er froh, alles überstanden zu haben.
Für Klaschkas Entfernung aus dem Transsib hatte man allerdings Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Der Wagen wurde abgesperrt, ein Lastwagen fuhr auf den Bahnsteig bis an die offene Tür, ein Sarg wurde hineingeschoben und zwei abgebrühte Leichenwärter des Krankenhauses von Tschita legten die steif gefrorene Tote in den Holzkasten.
Mulanow, der dabeistand, um Klaschka ein letztes Lebewohl zu sagen – ein blödes Wort, denn sie lebte ja nicht mehr! –, schossen die Tränen in die Augen, und er weinte still vor sich hin, bis der Lastwagen mit der traurigen Fracht den Bahnsteig verlassen hatte.
Niemand hatte Klaschka besucht außer Mulanow. Daß dies durch die Absperrung unmöglich war, daran dachte er in diesem Augenblick nicht. Er dachte nur: Auch eine Hure ist doch ein Mensch! Aber so ist es … um einen toten Hund wird manchmal mehr geweint als um ein solches Wesen!
Der unfreiwillige Aufenthalt dauerte eine halbe Stunde, dann war alles überstanden.
Die Verspätungen des Transsib summierten sich –, er konnte sie auch auf der nun folgenden Amur-Strecke nicht einholen.
Es war eben alles in allem ein besonderer, ein noch nie dagewesener Zug, wie Mulanow sagte.
Werner Forster stand am Fenster und blickte zurück auf Tschita, die Schicksalsstadt ungezählter Verbannter, als Karsanow das Abteil betrat. Der Zug hatte den Bahnhof verlassen und ratterte durch die Vorstädte. Auch hier wieder Holzhäuser wie zur Zarenzeit, auch hier ewiges Rußland …
»Ich weiß, woran Sie denken«, sagte Karsanow und setzte sich.
Forster drehte sich um. »Ach! Sie leben noch, Pal Viktorowitsch?«
»Fröhlicher denn je!« Karsanow streckte behaglich seine Beine aus. Er war müde geworden. Plotkin war ein verdammter Schachgegner gewesen! »Ich nehme an, Sie haben viel über Tschita gelesen? Viel Unwahres, Übersteigertes, Aufgeblähtes …«
»Hier hat einmal die Fürstin Trubetzkoi gestanden und ihren verbannten Mann gesucht. Ist das unwahr?«
»Das stimmt! Diese Zaren! Eine Bande, Werner Antonowitsch! Menschenverächter! Heute ist Tschita eine blühende Handelsstadt und platzt aus allen Nähten. Ein Ort, von dem aus die neuen Pioniere der Zukunft nach Sibirien strömen …«
Plötzlich blickte er Milda Tichonowna an und blinzelte ihr zu. »Sibirien braucht auch Frauen! Viele schöne Frauen! Für ein neues sibirisches Geschlecht! Ich habe Lust mich mit Ihnen darüber zu unterhalten.«
Ein Teufel, dachte Forster bitter. Ein richtiger Teufel! Im Vaterton mitten hinein ins Verhör und die Zerstörung.
»Ich schlage Ihnen etwas vor, Pal Viktorowitsch«, sagte er laut. Draußen begann wieder der Wald, die lichte Taiga, durchsetzt mit Felsen. »Ein Schachspiel …«
»Sie?« Karsanow lachte gemütlich. »Sie können doch nicht …«
»Ich habe mich erinnert – ich kann es doch!«
»Ich schlage Sie beim dritten Zug, Werner Antonowitsch. Aber bitte …«, Karsanow holte seinen Koffer herunter und packte ein Schachspiel aus. »Eigentlich ist es schade, die Figuren erst aufzustellen. Was setzen Sie ein?« Karsanow rieb sich die Hände. »Zehn Rubel! Einverstanden?«
»Nein!«
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