Transzendenz
die wir nicht sehen können. Das Übernatürliche. Die Ewigkeit.«
»Was auch immer.« Ihre Stimme klang geringschätzig. »Ich glaube, Etiketten bringen da nicht viel. Einige unserer Erfahrungen sind tiefer greifend als andere. Bedeutsamer. Momente der Offenbarung vielleicht, wenn man ein Problem löst oder etwas Neues über die Welt herausfindet – Sie sind Ingenieur; Sie wissen, was ich meine.«
»Man fühlt sich, als wäre man der Realität ein wenig näher gekommen.«
»Ja. So ähnlich. Ich bin durchaus bereit zu glauben, dass wir manchmal bewusster, wahrnehmungsfähiger sind als zu anderen Zeiten. Vor allem, seit die Neuro-Kartierer und andere ihrer Art freimütig zugeben, dass sie immer noch keine Ahnung haben, was Bewusstsein überhaupt ist. Und wenn man dieser Logik konsequent folgt«, sagte sie beharrlich, »könnte man vielleicht erwarten, ähm, Geistererscheinungen im Zusammenhang mit Orten zu finden, wo man starke Gefühle erlebt hat.«
»Wie in klassischen Gespenstergeschichten.«
»Ja. Wer weiß?« Sie betrachtete mich forschend. »Wenn Sie diesen Geist wirklich stellen wollen, der Sie angeblich verfolgt, sind Sie dort vielleicht am richtigen Ort.«
Ich nickte. »Ich spüre ein ›Aber‹.«
»Okay. Aber Sie sind eigentlich nicht dort, um Geisterjäger zu werden, nicht wahr, Michael? Sie sind dort, weil Sie von der Vergangenheit befreit werden wollen. Vielleicht suchen Sie so etwas wie Erlösung. Und es gibt doch bestimmt andere Wege, das zu tun, als sich bewusst Geistererscheinungen auszusetzen.«
»Ich entwerfe Raumschiffe als Therapie. Jetzt jage ich Geister als Therapie. Ich muss ganz schön im Arsch sein.«
Sie lächelte, aber ihr forschender Blick war unnachgiebig, intensiv, ein wenig einschüchternd. »Tja, wenn Sie’s sagen…«
»Ich glaube, ich muss das tun.«
»Mag sein. Aber hören Sie, ich habe Angst, dass Sie dabei zu Schaden kommen. Dass Sie in eine Grube in Ihrem Inneren steigen, aus der Sie nicht mehr rauskommen.«
»Ich passe schon auf«, versprach ich.
»Und weshalb beruhigt mich das nicht? Wenn Sie diesen Mist hinter sich haben, ist es klar, was Sie tun sollten.«
»So?«
Sie beugte sich vor; ihr riesiges Bildschirmbild ragte über mir auf. »Reden Sie mit Tom darüber, Ihrem Sohn. Und dann gehen Sie wieder an die Arbeit, Herrgott noch mal.«
Sie unterbrach die Verbindung.
14
An ihrem ersten Morgen auf der Rostkugel erwachte Alia früh.
Sie wusch sich und aß etwas. Eingehüllt in den Dunst, dessentwegen sie von den Auswirkungen der Schwerkraft verschont geblieben war, hatte sie ziemlich gut geschlafen, aber die Luft im Innern der kleinen Behausung mit den Rostwänden war so dick und still wie draußen. Sie fühlte sich verbraucht, ausgelaugt und freudlos, genau wie der Planet selbst.
Ohne weitere Förmlichkeiten lud Bale sie ein, an einem »Gespräch« teilzunehmen, wie er es nannte.
Sie fand sich in einem großen, schlichten Raum voller Menschen wieder. Etwa zwanzig Leute saßen zwanglos auf dem Boden. Als Alia fragte, wo sie sich hinsetzen solle, zuckte Bale nur die Achseln, und darum suchte sich aufs Geratewohl einen Platz. Die drei Campocs saßen in ihrer Nähe, sodass sie sich nicht ganz so allein fühlte. Die anderen waren weiter entfernt; ihre Gesichter verloren sich im Halbdunkel. Der Raum mit seinen schmucklosen Eisenwänden war uninteressant und so dunkel und gefängnisartig, wie ihr der ganze Planet erschien.
Es gab eine Vorstellungsrunde. Diese Leute gehörten offenbar alle zu Bales großer Familie: Eltern, Kinder, Geschwister, Cousins und Cousinen diverser komplizierter Grade. Alia merkte sich die Namen mühelos und konstruierte in ihrem Kopf einen Plan dieses engmaschigen Familiennetzes.
Als die Formalitäten erledigt waren, fragte sie: »Fangen wir jetzt an?«
»Womit?«, fragte Bale.
»Mit meiner Ausbildung. Der zweiten Implikation.«
Bale hob die maschinenartig massiven Schultern. »Wir werden uns einfach nur unterhalten.«
Irritiert sagte sie: »Ich verbringe schon den größten Teil meiner Zeit damit, mich mit Reath zu unterhalten.«
»Reath ist ein guter Mann. Aber worum geht es bei der zweiten Implikation?«
»Um unvermittelte Kommunikation. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet, aber…«
»Man kann nicht über Kommunikation reden«, sagte Bale sanft, »ohne zu kommunizieren.«
Sie seufzte. »Und worüber wollen wir reden?«
»Worüber Menschen immer reden. Über sich selbst. Über einander. Du bist hier zu
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