Transzendenz
fühlen – jedenfalls nicht dasselbe wie sonst, nicht so viel, dass ich nicht mehr richtig funktionieren würde.
John hatte mich immer gedrängt, die Medikamente zu nehmen. Er hätte es garantiert getan. Aber ich hatte mich geweigert. Erinnerungen machen mich zu dem, der ich bin – selbst schlechte Erinnerungen, furchtbare Erinnerungen. Was hat es für einen Zweck, »weiterhin zu funktionieren«, wenn das nicht mehr so ist? Als ich mich damals weigerte, Tom dieselbe Behandlung angedeihen zu lassen, sah ich mich mit einer ganzen Batterie von Beratern konfrontiert, die mich mit ernsten Mienen darauf hinwiesen, welchen Schaden ich meinem hilflosen Sohn zufügte und welche Schmerzen ich ihm ersparen könnte. Ich blieb bei meinem Entschluss. Aber ich gebe zu, wenn ich auf Toms seitheriges Leben zurückblicke, frage ich mich manchmal, ob ich die richtige Entscheidung für ihn getroffen habe.
Ich verweigerte also die »Vergessens«-Pillen. Aber ich lernte, dass es auch so etwas wie »Erinnerungs«-Pillen gab.
Es gibt Medikamente, die Erinnerungen schärfen statt dämpfen können, indem sie dafür sorgen, dass Glutamat oder irgendein ähnliches Gehirnmolekül effektiver arbeitet. Man muss sich einigen Analysen durch diverse therapeutische Maschinen unterziehen, um herauszufinden, was man braucht, und sich mit einer Beratung bezüglich der Schäden einverstanden erklären, die der eigenen Persönlichkeit durch zu viele Erinnerungen zugefügt werden könnten. Aber die Medikamente sind nicht verschreibungspflichtig. Als ich all dies herausfand, kaufte ich mir einige Tabletten und legte sie beiseite. Ich bewahrte sie in meiner Kulturtasche auf. Seither hatte ich sie überallhin mitgenommen; ich wusste, dass sie da waren, dachte aber nicht darüber nach, warum ich sie bei mir haben wollte.
Nun war der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich schluckte meine Pille, legte mich in dieses Bett in diesem kleinen Hotel mitten in England und versuchte, mich zu erinnern.
Hier war ich in jener ersten Nacht mit Morag gewesen. Wir waren früh ins Bett gegangen, noch randvoll von Hochzeits-Bonhomie und Reden, Essen und Champagner. Wir hatten miteinander geschlafen.
Aber dann fiel mir ein, dass ich später aufgewacht war, vielleicht gegen drei Uhr morgens, zu der Zeit, wenn der Körper am Tiefpunkt ist und sämtliche Schutzmechanismen abgeschaltet sind. Morag war ebenfalls wach. Sie lag neben mir, hier in diesem Hotel. Der Rausch war inzwischen verflogen; ich hatte einen leichten Kater. Aber sie war da. Weil wir vorher schon ein Jahr zusammengelebt hatten, glaubten wir beide wohl, die Hochzeit spiele keine große Rolle. Aber wir waren einander gegenüber eine Verpflichtung eingegangen. Es spielte sehr wohl eine Rolle.
Also liebten wir uns erneut, in diesem Hotel, in dieser englischen Dunkelheit, genau hier. Ich erinnerte mich an den Geruch von Shampoo und Spray in ihren Haaren, an die Weichheit ihrer Haut und einen leicht salzigen Geschmack, als ich ihre Wangen küsste – sie hatte an diesem Tag viel und gern geweint, wie es Bräute nun einmal tun. Und um uns herum atmete das jahrhundertealte Hotel, und jenseits seiner Mauern rammte der noch ältere Häuserberg der alten Stadt seine steinernen Wurzeln tief in den Boden.
In meine pharmazeutisch geschärften Erinnerungen versunken, erlebte ich alles noch einmal, als wäre es wieder real. Vielleicht weinte ich. Wahrscheinlich. Vielleicht schlief ich.
Ich glaubte, jemanden rufen zu hören.
Es war eine Frau draußen vor dem Hotel, unten auf der Straße, der alten Römerstraße. Im Zimmer war es kalt, schrecklich kalt. Während ich dieser Stimme lauschte, schlang ich die Arme um den Körper, um das Zittern zu bezwingen.
Plötzlich befand ich mich außerhalb des Hotels.
Es war kurz vor Morgengrauen, und ein blaues Licht sickerte widerwillig und ohne jede Wärme in den Himmel. Das Licht spiegelte sich in einem kleinen See, der vielleicht fünfzig Meter von mir entfernt die Straße zwischen mir und dem Stadtzentrum versperrte. Ich war von den Silhouetten dunkler Häuser umgeben. Kein Fahrzeug fuhr auf der Straße, niemand war hier draußen, niemand war wach, nur ich. Müll schwamm in dem Wasser, das sich träge kräuselte. Die Welt erschien mir wie ein düsterer, besiegter Ort.
Wie war ich hierher gekommen? Ich konnte mich nicht entsinnen, mich angezogen oder mein Zimmer verlassen zu haben. Ich war desorientiert und übermüdet.
Als ich die Straße entlang in Richtung Stadt schaute, sah
Weitere Kostenlose Bücher