Transzendenz
Zukunft nachgegrübelt hatte, waren tiefer greifende Dinge an die Oberfläche gekommen. Ich fuhr mit dem Zug nach London, aber nur, um die City Richtung King’s Cross zu durchqueren, einem der großen Bahnhöfe für die Zugverbindungen in den Norden des Landes.
Nach meiner Begegnung mit Morag im VR-Sibirien hatte ich beschlossen, mich auf die Suche nach ihr zu machen. Hier gab es für mich eindeutig Klärungsbedarf. Deshalb fuhr ich nach York.
Ich weiß nicht mehr, wann ihre Besuche angefangen haben. Vielleicht ist sie schon gekommen, als ich noch sehr klein war, in einer Zeit, die nun im leuchtenden Nebel der Kindheitserinnerungen versunken ist. Ich glaube, ich merkte erst als Teenager, mit dreizehn oder vierzehn Jahren, dass andere Menschen nicht ständig solche Erfahrungen machten, sondern nur ich.
Als ich Morag schließlich begegnete, erkannte ich sie wieder, und das versetzte mir einen Schock.
Es geschah während eines Arbeitsaufenthalts in England. Ich war auf einer Party, die von einer irischen Familie veranstaltet wurde, alten Freunden meiner Mutter. Wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen, ging ich schnurstracks auf Morag los. Ich glaube, ich jagte ihr mit meiner Intensität tatsächlich Angst ein.
Als ich mich beruhigt hatte, kamen wir prima miteinander klar. In ihren Adern floss unverkennbar irisches Blut, und sie war geistreich, intelligent und witzig. Selbst ihr Job war interessant: Als Bioprospektorin verbrachte sie ihre Zeit mit der Suche nach neuen Schlauchpilz-Arten, einer wichtigen Antibiotika-Quelle. Wie sich herausstellte, war sie sogar eine Freundin von John, dessen juristische Karriere ihn in eine ähnliche »moderne« Richtung geführt hatte; er verdiente sein Geld mit den vom Klimawandel ausgelösten großen Veränderungen der Vermögensverteilung und der Bevölkerungsstruktur. In mancher Hinsicht hatte Morag mehr mit John gemein als mit mir; schließlich verwandelte ich mich zu jener Zeit gerade in einen altmodischen Atomkraftingenieur. Aber Morag war stets »grüner« als John. Später dachte ich immer, diese Seite von ihr hätte in Tom ihre Fortsetzung gefunden.
Und sie war schön, mit ihrem lodernden Wust rotblonder Haare.
Als unsere Beziehung sich weiterentwickelte, wurde sie für mich rasch sie selbst: Morag, nicht die Fleisch gewordene Ausgabe meines ganz persönlichen Geistes. In den Jahren, in denen wir zusammen lebten, blieben meine Erscheinungen aus. Nach einiger Zeit – und besonders nach Toms Geburt – nahmen mich andere, realere Sorgen gefangen. Allmählich betrachtete ich meine Visionen als Teil der Vergangenheit.
Ich erzählte Morag nie etwas davon. Ich hatte es immer vor, fand aber einfach keinen Weg, wie ich es ihr beibringen konnte, ohne sie zu erschrecken. Wie soll man seiner Frau erklären, dass sie einen schon von Kindesbeinen an verfolgt hat? Und als die Visionen dann in die Erinnerung zurücktraten, erschien mir schließlich schon der Versuch absurd, darüber zu reden, und ich schob all das beiseite.
Dann starb sie, und es war zu spät.
Und die Erscheinungen begannen aufs Neue. Die erste ereignete sich grausamerweise in einem trostlosen Krankenhausflur, wo ich mit Tom saß, kurz nachdem wir erfahren hatten, dass wir Morag und das Baby verloren hatten.
Anfangs sah ich diese Erscheinungen nur selten, vielleicht ein- oder zweimal pro Jahr. Sie machten mir immer noch keine Angst. Doch nach dem Verlust meiner Frau wurden sie unerträglich schmerzhaft.
Im letzten Jahr – in den Monaten vor Toms Unfall – hatte ihre Häufigkeit zugenommen. Erst in den letzten paar Tagen hatte ich Morag in Florida am Strand und sogar während meines VR-Trips nach Sibirien gesehen. Dieser Spuk war schlimmer denn je. Vielleicht lag es am Schock, an der Sorge um Tom. Vom gefrorenen Grund meines Bewusstseins waren viele tiefe, verwirrte Gefühle aufgewallt, so wie Toms Methan-Rülpser aus den Hydratlagern.
Deshalb hatte ich beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen, bevor ich dem wirklichen Tom gegenübertreten musste.
Die Fahrt dauerte nur ein paar Stunden. Der Zug war schnell, sauber, bequem. Wir durchquerten Peterborough und Doncaster sowie eine Reihe kleinerer Orte, deren Namen ich von ähnlichen früheren Reisen kannte, über die ich jedoch wenig bis gar nichts wusste. Die Landschaft hatte sich allerdings verändert, seit ich diese Fahrt zum letzten Mal unternommen hatte. Auf den riesigen Feldern voller wogendem Weizen, Raps und genmanipulierten
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