Trantüten von Panem
dicht an mir vorbeisaust und sich in den Baum neben mir bohrt. Carola ist da.
»Nein, du bist!«, erwidere ich und ramme ihm mein Messer ins Bein. Er zieht es heraus, und wir amüsieren uns königlich.
»Nicht schlecht, Katzenpisse«, meint er. Das ist nicht mein richtiger Name. In Wirklichkeit heiße ich Kantkiss. Kantkiss Neverclean. Carola nennt mich nur Katzenpisse, weil er mich nicht richtig verstanden hat, als ich ihm bei unserem ersten Treffen meinen Namen ins Ohr flüsterte. Außerdem war ich gerade zuvor in einer Pfütze Katzenpisse ausgerutscht. Seitdem neckt er mich, indem er mich Katzenpisse nennt. Leider fällt mir kein ebenso passender Spitzname für ihn ein.
Carola und ich kennen uns seit Jahren. Er ist ein hervorragender Jäger und sieht umwerfend aus. Selbst wenn er gerade ein Eichhörnchen ausnimmt, hat er diesen fantastisch träumerischen Blick. Ich überlasse ihm immer den ersten Bissen des rohen Eichhörnchenherzens.
Wir gehen zusammen jagen, um unsere Familien zu ernähren. Außerdem verkaufen wir das, was übrig bleibt, auf dem Nepp – so heißt der Schwarzmarkt von Distrikt 12. Dort haben wir es meistens mit Slimey Sue zu tun. Sie ist berühmt für ihre Suppen, ihren üppigen Schnurrbart und die vielen Zahnlücken.
Ich gehe für meine Familie jagen, weil mein Vater nicht mehr für uns aufkommt. Keine Angst, er ist nicht faul oder so. Aber tot. Sein Callcenter ist in die Luft geflogen. Er hatte noch Zeit, ein letztes Mal zu Hause anzurufen, aber sein Körper war bereits verkohlt, ehe er die Verkaufsleier herunterbeten konnte. Er hatte zwar schon mit dem Jingle angefangen – »Averills Pudding / schmeckt so gut / Hol dir Averills Pudding / Der macht Mut!« –, doch dann riss es ihn in Stücke. Ich wollte ihm noch sagen, wie sehr ich ihn vermissen und dass ich mich um Prin und Mutter kümmern würde. Doch er wollte einfach nicht aufhören zu singen.
»Also gut, los geht’s!«, gibt Carola das Kommando und holt mich zurück in die Gegenwart. Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar, und für einen Augenblick vergesse ich, dass ich bitterarm in einem totalitären Staat lebe, und bin das glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt.
Wir kommen zum elektrischen Zaun, der Distrikt 12 vom Wald trennt. Wegen der ständigen Stromausfälle steht er nur drei oder vier Stunden am Tag unter Spannung, sodass es gewöhnlich kein Problem darstellt, drüberzuklettern. Das ist auch der Grund, warum ich nichts gegen die Stromausfälle habe. Für die Freunde von Videospielen sind sie allerdings etwas weniger erfreulich.
Wir dürfen Distrikt 12 nicht verlassen. Darauf steht eine harte Strafe. Es ist nicht so, als müsste man die Leute dringend daran hindern, von hier abzuhauen, denn auf der anderen Seite des Zauns wartet alles Mögliche gefährliche Viehzeug wie Mamajams, Wagalaks und sogar der eine oder andere Tutovogel. Aber es gibt dort auch Essbares. Man muss nur wissen, wo. Carola und ich lassen uns jedenfalls nicht abschrecken, denn sonst würden wir garantiert bis auf die Knochen abmagern. »Distrikt 12. Wo Sicherheit großgeschrieben wird, andere Sachen aber klein«, sage ich immer. Einer meiner vielen cleveren Sprüche.
Ich versuche, über den Zaun zu springen, bleibe aber mit dem Fuß an einem Pfahl hängen. Dann lege ich mich flach auf den Boden, um unter dem Maschendraht hindurchzuschlüpfen. Aber ich kann den Bauch nicht weit genug einziehen und bleibe zappelnd hängen, bis mich Carola am Fuß packt und wieder herauszieht. Er ist so stark , denke ich bewundernd. Dann laufe ich mit voller Geschwindigkeit direkt in den Zaun hinein, aber das klappt auch nicht. Mittlerweile ist mir schwindlig. Endlich bemerke ich etwa einen Meter zu meiner Linken ein kleines Tor. Ich ziehe am Riegel, öffne es und spaziere auf die andere Seite. Carola nimmt Anlauf und hüpft in einem eleganten Satz auf meine Seite. Atemberaubend!
Wir gehen einen Kilometer am Zaun entlang und halten Ausschau nach Beute. Vor uns sehen wir eine Scheune. Carola flüstert: »Du übernimmst die untere, ich die obere Seite.« Ich nicke, begebe mich auf alle viere und robbe vorsichtig vorwärts. Carola läuft aufrecht neben mir her. So sind wir auf alles vorbereitet.
Wir stehen vor dem Schuppen. In einer kleinen Einfriedung steht eine Handvoll grasender Kühe. Wenn sie sich nicht gerade am Gras ergötzen, saufen sie irgendeine Brühe aus einer großen Schubkarre, neben der ein Bauer ein Nickerchen hält. Würdige Gegner. Mein Herz
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