Trapez
Hoffnung schwand.
»Wie geht’s Betsys Fuß ?«
»Nicht gut. Er ist verbunden und tut ihr ziemlich weh.
Am besten du kommst rüber und übst mit uns – du bist fast einen Monat nicht aufgetreten.«
Angelo war am anderen Ende des Trapezes angekommen. Tommy rannte zu ihm und erklärte es ihm, und Angelo nickte. »Ich werd’s Matt sagen. Also lassen wir die Duo-Nummer heute mal aus. Was soll’s?«
Tommy fühlte sich flau, entkräftet, als er sich mit den neun Mädchen des Luftballetts aufstellte. Er kannte sie natürlich alle; Lambeth war ein Familienzirkus, und die Artisten blieben Jahr um Jahr dabei. Ab und zu stieg mal ein guter Artist zu großen Shows auf wie Sorenson, Wood’s-Wayland, sogar Starr’s – oder ein betrunkener oder unfähiger Artist wurde gefeuert. So ein Mi ss geschick hatte mal Platz für die Santellis gemacht. Aber für gewöhnlich blieb die Show dieselbe, Jahr für Jahr.
Luftballett! Er hatte schon damit begonnen, als er zehn Jahre alt war. Große , feststehende Metalleitern waren sternförmig im Kreis angeordnet, zehn Mädchen in Ballettkostümen mit Rüschen kletterten an einem Seil zu den Leitern hinauf, und führten im Takt zur Musik einfache Gymnastikübungen vor. Es gab sogar Fu ß schlaufen , damit niemand während einer Drehung herunterfiel, und unten hielt jemand das Vertikalseil fest gespannt.
Tommy stellte sich neben Little Ann Clane in den Kreis. Auf dem Musikpodium legte jemand eine Platte mit der Musik auf, die das Luftballett für diese Nummer benutzte. Tommy zählte in Gedanken, als sie anfingen im Takt hinaufzuklettern, mit einer Pause bei jedem vierten Schlag für einen Kick und eine Drehung. Er kannte die Nummer im Schlaf.
»Halt, halt! Linkes Bein hoch!« rief Margot. Tommy konzentrierte sich, merkte aber, dass das Mädchen neben ihm gemeint war. Tommy hätte es schon genügt Little Ann zuzusehen, um alles richtig zu machen. Sie war ein kleines, stupsnasiges Mädchen mit glänzendem Haar, das für die Probe zu zwei kurzen Rattenschwänzen gebunden war. Sie spulte die Nummer mit schläfriger Sicherheit ab, als ob sie nur halb wach wäre. Sie war ein Jahr älter als Tommy und hatte mit ihrer Mutter akrobatische Tricks in der Manege vorgeführt, seit sie sechs Jahre alt war.
»Marie, zieh die Ellenbogen an! Little Ann, halt deine Hände in einer Linie mit deinem Körper und schlenkere nicht überall rum! Tommy, was glaubst du eigentlich, was du machst? Fünf Schläge, und guck nicht zur Seite!
Zelda, dein Fuß !« Es schien Tommy, als habe er das sein ganzes Leben lang gehört, Margots helle Stimme, die rief und zählte.
Er blickte verstohlen nach den Mädchen, als sie herunterkamen. Sie hatten alle blondes Haar, natürlich oder gebleicht, und die meisten trugen es mit Lockenwicklern, mit Bändern oder Pferdeschwänzen. Sie trugen verschiedene Shorts, Oberteile, Gymnastikanzüge. Er glaubte, dass er zwischen all den Mädchen schrecklich komisch aussah. Als sie alle weg waren, rief Margot ihn zu sich.
»Ich habe schon mit deiner Mutter gesprochen. Sie hat gesagt, es ist okay.«
»Glaubst du nicht, dass ich schrecklich komisch aussehen werde, ein Junge unter neun Mädchen?«
In den drei Jahren, die er schon dabei war, war ihm dieser Gedanke nie gekommen.
»Mit der Perücke wird niemand wissen, ob du ein Junge, ein Mädchen oder ein Schimpanse im Rock bist.«
Margot beobachtete ihn, ihr Kopf wie der eines Vogels zur Seite geneigt. »Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dich regelmäßig in die Manege gesteckt, vor sechs oder acht Jahren, wie Little Ann. Aber Beth wollte nicht auf mich hören. Ich wü ss te gern, was Tonio ihr gesagt hat. Okay, sobald du aus deinem Paradekostüm von der ersten Show heraus bist, komm rüber zur Mädchengarderobe, und ich werde das Kostüm und die Perücke für dich bereithalten.«
Tommy sagte höflich: »Jawohl, Madam«, und rannte zum Trapez. Aber die Santellis waren schon weg.
Das Publikum an jenem Nachmittag war wie jedes andere Nachmittagspublikum, hauptsächlich Kinder; Tommy konnte sich nicht erklären, warum es irgendwie anders und feindselig schien. Heute überließ er das Überprüfen der Kostüme nach der Parade Ellen Brady und lief zu Margots langem, rotweißen Wohnwagen hinüber, der gleichzeitig Umkleideraum für die Mädchen des Luftballetts war. Als Tommy klopfte, kam sie mit beiden Armen voll rosa Tarlatan an die Tür. Jemand hatte das Radio an, das Kriegsnachrichten hinausplärrte.
»Du bist dieses
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