Trapez
vorbeigreifen, das macht jeder beim ersten Mal .« Er ließ los, lehnte sich zurück, legte seine Beine um die unteren gepolsterten Stützen des Fängertrapezes und fing an, langsam und gleichmäßig vor und zurück zu schwingen.
Tommy stand sprungbereit auf der Plattform, mit trockenem Mund, aber er spürte den gleichmäßigen Pendelschwung in sich. Er nahm die Stange in seine Hände.
»Jetzt!« sagte Mario. Aber Tommy war schon von der Brücke herunter, schwang sich kräftig hinaus und fühlte, wie sich sein Körper nach oben bog. Am Ende des Schwungs streckte er Arme und Knie vor –das nennen sie immer »die Katze häuten«, scho ss es ihm durch den Kopf – dann hörte er Mario sagen, »Jetzt!«, ließ los und fühlte, wie der Schwung ihn auf Marios ausgestreckte Hände zutrieb. Natürlich verfehlte er und spürte leichte Übelkeit durch den Fall, als aus seinem Flug ein Sturz wurde. »Roll dich zusammen!« rief Mario. Aber Tommy hatte sich schon instinktiv umgedreht und zusammengerollt, ein unbewu ss ter Reflex. Er kam dort auf, wo sich das Netz zu den Spannseilen hin nach oben wölbte und federte nicht, sondern rutschte, so dass die Seile Haut von seinem nackten Ellenbogen schürften. Er war atemlos.
Ein unfreiwilliger Fall ins Netz war bei weitem nicht wie die absichtlichen Stürze, die er gelernt hatte! Er lag zitternd und überrascht da, und über ihm schwang Mario mit dem Kopf nach unten und lachte.
»Siehst du, großer Unterschied zwischen Fallen und Tauchen. Komm rauf und versuch’s noch einmal.«
»Sobald ich wieder Luft kriege.«
»Und bleib ein bi ss chen länger an der Stange hängen.
Du hast zu früh losgelassen. Warte das nächste Mal bis ich rufe.«
Tommy kletterte hinauf, schwang wieder, verfehlte wieder. Und ein drittes Mal. Inzwischen hatte er schon dunkle Blutergüsse auf beiden Schultern, und die starren Netzseile hatten sein linkes Knie und den rechten Ellenbogen wund gescheuert. Es brannte wie Feuer. Er war schmerzhaft entmutigt. Seine Augen taten weh. »Einmal noch«, rief Mario hinunter.
»Ich glaub’, ich schaff’s nicht.«
»Was bist du? Ein Schlappschwanz? Komm hier rauf!
Und du lä ss t immer noch zu früh los. Ganz bis zum Ende des Schwungs.« Diesmal streiften Tommys Handgelenke wirklich Marios Hände. Doch in dem Moment, als er den plötzlichen Erfolg verspürte, ließ er los, bevor sich ihre Handgelenke verschränkten. Er griff wild um sich und sein Ellenbogen schlug Mario ins Gesicht.
Er fiel, drehte sich schnell auf den Rücken, und irgendetwas schlug direkt neben ihm auf. Als er sich stöhnend aufrappelte – er hatte jetzt Schürfwunden an beiden Ellenbogen – , sah er Mario neben sich im Netz sitzen.
Blut tropfte von seinem Gesicht. »Mario, deine Nase, sie blutet!«
»Verdammt noch mal, das weiß ich.« Es war das erste Mal , dass Mario die Beherrschung verlor und fluchte. Wie alle Künstler, die hauptsächlich vor Kindern auftreten, war Mario vorsichtig mit dem, was er öffentlich sagte.
Und irgendwie gab das Tommy einen seltsamen Auftrieb.
Als ob er nicht länger ein Außenstehender sei, ein Kind, auf das man aufpassen mu ss .
»Tut mir leid, Mario. Es war mein Fehler. Ich habe das Gleichgewicht verloren.«
»Du hast zugefa ss t. Ich hab’s dir doch gesagt.«
Mario zog das talkumverschmierte Taschentuch aus seinem Hosenbund – sie hatten alle eins, um Handschwei ß von den Trapezstangen zu wischen – und rieb sein Gesicht damit ab. »Du solltest mal bei der Frau, die mit den Tigern ringt, anfangen«, sagte er noch barsch.
»Nein, du hast mich nicht runtergezogen, ich habe gemerkt, dass meine Nase zu bluten anfing und habe losgelassen. Das reicht für heute Morgen . Ich muss hier ein bi ss chen Eis drauftun, sonst blute ich noch während der ganzen Nachmittagsvorstellung. Hau ab!«
»Kann ich irgendetwas tun? Soll ich dir Eis vom Getränkestand holen?«
Tommy stand hilflos da, als Mario vom Netz herunterkletterte.
»Nein nein, zieh dir nur deinen Pullover an, bevor du dich erkältest. Mach nicht so viel Wind. Das gehört eben dazu. Oder sieht es nicht mehr so sehr nach Spaß aus?«
Tommy überhörte den Sarkasmus und zog sich seinen Pullover an.
»Wenn du ein paar tausendmal fallen kannst, werden mir ein paar dutzendmal nichts ausmachen … Egal, fast hätte ich diesmal deine Hände erwischt.«
Mario nahm lachend das blutige Taschentuch von seinem Gesicht.
»Kann schon sein. Vergi ss nicht, was auf deine Wunden zu tun, ragazzo. Deine Mutter
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