Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
wir alle nicht, dass es geschieht, und es schockiert, weil hier von sehr bewusster Folter gegen Kinder und Frauen in organisierten Täterkreisen die Rede ist. Mein Rat: Sie sollten dieses Kapitel nur im Detail lesen, wenn Sie nicht selbst von ritueller Gewalt betroffen sind – und wenn doch, dann nur mit fachkundiger Begleitung. Zwar habe ich visuelle Trigger (mögliche Auslöser für Flashbacks in Bildform) vermieden, doch auch im Text können zahlreiche unangenehme Details bei Betroffenen eigene Erinnerungen auslösen. Die vielleicht schwierigsten Textpassagen habe ich kursiv setzen lassen, damit Betroffene diese Schilderungen ggf. überspringen können.
In den letzten beiden Jahrzehnten ist die Aufmerksamkeit weltweit auf eine bestimmte Form von Misshandlung gelenkt worden, die sich noch einmal auf besondere Weise auf die Opfer auswirkt: rituelle Gewalt. Nicht nur Hunderttausende von Kindersoldaten in afrikanischen Ländern werden auf grausamste Weise „abgerichtet“, etwa indem sie in ritualisierter Weise Tiere töten und ihr Fleisch roh essen müssen; indem sie nicht nur selbst extrem gequält werden – auch sexuelle Gewalt ist an der Tagesordnung –, sondern auch andere Kinder und Erwachsene foltern und töten müssen (siehe Keitesi, 2000; Kourouma, 2002).
Das alles können wie hierzulande glauben – es ist schrecklich, doch es ist weit weg. Wie aber ist das? Auch in westlichen Industrienationen werden etliche Tausend Kinder durch sexuelle Gewalt in Kombination mit ritualisierter Folter und erzwungenen Misshandlungen anderer Lebewesen „dressiert“, vorwiegend, um in der (Kinder-)Pornoindustrie und zur Zwangsprostitution in Kombination mit bizarren „magischen Ritualen“ benutzt zu werden. (Siehe u. a.: AGJ, 1996; Faller, 1994; Fraser, 1997; Fröhling, 1996; Grandt & Grandt, 1995 und 1999; Huber, 1995; Hudson, 1991; Jonker & Jonker-Bakker, 1997; May et al. 2001; Noblitt & Perskin, 2000 a,b; Rennebach et al., 2002; Ritual Abuse Task Force, 1996; Robbins, 1997; Ross, 1995; Sakheim & Devine, 1992; Schwartz, 2000; Shaffer & Cozolino, 1995; Sinason, 1994 und 2002; Smith, 1994; Spencer, 1995; Wieskerstrauch, 2002; Woodsum, 1998.) Bewusst habe ich hier viele Literaturangaben zum Nachlesen hinzugefügt (einige davon sind Sammelbände), damit Sie sehen: So etwas denken sich nicht irgendwelche phantasiebegabten Klientinnen aus (auch wenn es natürlich in Ausnahmefällen vorkommen kann), es ist auch keine „Hysterie“ von Therapeutinnen, wie manchmal behauptet wird, sondern es stimmt tatsächlich.
Was ist rituelle Gewalt?
Was vor Jahren noch als vereinzelte Extremtraumata erschien, gehört inzwischen in traumatherapeutischen Praxen und Kliniken sowie in Beratungsstellen gegen sexuelle Gewalt zum harten Alltag. Manche Kolleginnen kennen einzelne Fälle, in anderen Einrichtungen sind bis zu einem Drittel der Klientel von diesem Thema betroffen. In einer Umfrage unter 300 ausgewählten Einrichtungen wurden 1999 über 350 Fälle detailliert geschildert; es gab kaum angeschriebene Kolleginnen, denen das Phänomen rituelle Gewalt nicht vertraut war (Fröhling, Huber & Rodewald, 2003).
Viele dieser Fälle tauchen auf im Zusammenhang mit sogenannten destruktiven Kulten und Sekten, aber es gibt auch andere Zusammenhänge. Daher zunächst einmal eine
Definition:
Rituelle Gewalt ist eine brutale Form der Gewaltanwendung an Kindern, Jugendlichen und/oder Erwachsenen, bestehend aus körperlicher, sexueller und psychischer Misshandlung in Form von Ritualen. Eine genauere Definition liefert Gayle Woodsum, die aus der amerikanischen Selbsthilfebewegung kommt und eine Organisation namens „Looking Up“ gegründet hat, in der mehreren Zehntausend Aussteigern aus rituellen Gewalt-Zusammenhängen geholfen wurde. Gayle Woodsum hat ein ausgezeichnetes Buch über dieses Thema verfasst, aus dem ich in diesem Kapitel mehrfach zitieren werde (Woodsum, 1998, Hervorhebungen von MH):
„Rituelle Misshandlung beinhaltet wiederholte sexuelle, körperliche, emotionale und mentale Angriffe, kombiniert mit ritualisierten Verhaltensweisen, die geplant und einem zwanghaften Muster zu folgen scheinen ... Die Täter im Bereich rituelle Gewalt fügen zur sexuellen Gewalt spezielle Misshandlungsformen hinzu wie: Elektroschocks; das Opfer fesseln; es auf unterschiedliche Weise aufhängen; in Gegenwart des Opfers bzw. am Opfer selbst Verstümmelungen vornehmen; ihm Drogen oder Alkohol einflößen; es einsperren. Ein weiteres Charakteristikum
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