Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
handeln. Sehr häufig sind es Beziehungsprobleme oder -konflikte, die Selbstverletzung auslösen. Oder etwas, das sie in unangenehmer Weise erinnert an Ereignisse, an die sie nicht erinnert werden wollen. Ereignisse, die mit eigenen Gewalterfahrungen zusammenhängen.
Oder es sind innere Auslöser wie etwa: ein gegebenes Versprechen nicht einhalten können; ein Jahrestag einer Traumatisierung; ein schwelender und sich zuspitzender innerer Konflikt, ein gebrochenes Schweigegebot (etwa, indem sie in der Therapie von Gewalterfahrungen gesprochen haben, die sie laut Täter niemandem erzählen dürfen) ...
Von der Psychodynamik her hat die Selbstverletzung eine Doppelfunktion und ist somit Ausdruck eines inneren Konflikts. Es geht darum,
etwas zu spüren: den Körper, einen Schmerz, Gefühle, Tränen, nachlassenden Druck, Erleichterung ...
und gleichzeitig
etwas nicht zu spüren: das „Eigentliche“, die Realität des Traumas, die Wahrheit des eigenen früheren Leides, die Unmöglichkeit, so weiterzumachen; die ohnmächtige Erschöpfung, die Wut ...
Damit hat Selbstverletzung – um noch einmal Pierre Janets frühe Erkenntnis zu zitieren – die klassische Bedeutung eines Symptoms: Es ist eine sekundäre fixe Idee, die von der primären fixen Idee ablenken soll: dem unbewältigten Teil der vergangenen (Trauma-)Erfahrung. Und wie bei jeder „Symptom-Trance“ ist auch bei der Selbstverletzung die Dissoziation der entscheidende Faktor.
Der Ablauf einer solchen Selbstverletzungs-Attacke sieht in der Regel so aus:
Ein Auslöser tritt auf (z. B. Streit mit dem Freund).
Sie bekommt unangenehme Gefühle (Angst, verlassen zu werden, und gleichzeitig Wut auf den Freund).
Sie denkt schlecht über sich, wobei ihre Gedanken generalisieren: Von dem Ereignis aus werden sie immer allgemeiner und immer selbstkritischer bis selbstzerstörerisch. („Ich bin’s ja auch nicht wert, dass er bei mir bleibt.“ „Alle Leute können mit mir machen, was sie wollen – für die bin ich einfach nur Dreck.“)
Sie zieht sich von diesen unangenehmen Gefühlen und Gedanken zurück, indem ihre Gedanken beginnen, um die „fixe Idee“ der Selbstverletzung zu kreisen. („Da im Bad – ach, meine Haut ist mir zu eng – die Rasierklinge – nein, nicht schon wieder – doch, ich muss, muss, muss es einfach tun.“)
Sie dissoziiert zunehmend – und von da an hat sie den Auslöser bereits vergessen. („Ah, ich schneide, da ist das Blut; so, jetzt ist es gut.“)
Wie heißt es so schön: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Die Dissoziation hat, zusammen mit dem Schneiden, ein positives Gefühl erzeugt, nämlich Erleichterung, Entspannung, Wohlgefühl. Damit ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein Verhalten, das so „konditioniert“ wurde, häufig wiederholt werden wird.
Leider bleibt es nicht bei dem guten Gefühl, denn sie sieht ihre aufgeschnittenen Arme an, kommt dabei allmählich aus der dissoziativen Trance heraus und sieht: „Oje, ich habe es schon wieder getan.“ Vielleicht muss die Wunde sogar genäht werden, was die aufkommenden Scham- und Schuldgefühle noch verstärkt.
Wenn der dadurch entstehende Druck zu groß wird – vielleicht fällt ihr jetzt auch wieder der Streit mit dem Freund ein –, dann kann eine Abwärtsspirale in Gang kommen: Wieder wird sie schlecht über sich denken, wird dissoziieren, sich schneiden ...
Als Symptom hat Selbstverletzung häufig den Charakter einer Sucht. Das Ablaufschema der Selbstverletzung spricht dafür:
innerer Drang oder Druck;
Selbstverletzung;
vorübergehende „Er-Lösung“;
neuer Druck baut sich auf ...
Ähnlich wie bei anderen Süchten oder Zwängen wird Selbstverletzung oft schamvoll versteckt gehalten: Die langärmelige Bluse soll auch im Hochsommer den zerschnittenen Arm verdecken; das zwanghaft herbeigeführte Erbrechen nach heimlichem Fressanfall wird als „Magenverstimmung“ erklärt; Schnitte und Verbrennungen werden sich an Stellen zugefügt (Bauch, Genitalbereich, Innenseite der Oberschenkel), die von Außenstehenden normalerweise nicht zu sehen sind ...
Und – der Widersprüche gibt es viele – gleichzeitig enthält die Selbstverletzung (wie übrigens ja auch der Suizidversuch) einen nonverbalen Hilfeschrei: Sieh mal, es geht mir so schlecht, dass ich mich zum Krüppel verstümmele; oder so dünn werde, dass ich zum Skelett abmagere, oder ...
Der Hilfeschrei kann auch noch konkreter sein: Sieh mal, ich werde immer noch misshandelt und muss mit
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