Traumfresser 3 - Die Alchemie des Bösen
weißem Staub bedeckt war, und hätte beinahe die Laterne fallen lassen.
»Guter Gott, warum haben Sie nichts gesagt!«
Das Loch von der Kugel hatte Svensons Militärmantel direkt über dem Herzen versengt. Chang riss den Mantel auf … aber da war kein Blut. Vom Laufen hätte Svensons Vorderseite eigentlich blutgetränkt sein müssen. Mit einem Zucken zog der Doktor sein zerbeultes Zigarettenetui heraus, in dessen verformtem Deckel jetzt eine Bleikugel steckte. Svenson drehte es um, sodass sie die andere Seite sehen konnten, die vom Aufprall der Kugel verbogen, jedoch nicht durchschlagen worden war. Er schob vorsichtig ein Taschentuch unter seine Uniformjacke, presste es fest gegen die Rippen und zog es dann wieder heraus: ein Blutfleck von der Größe einer gepressten Teerose.
»Die Rippe ist gebrochen – ich habe es beim Laufen gespürt –, aber ich bin noch am Leben, obwohl ich es nicht mehr sein sollte.«
Chang erhob sich. Francesca Trapping blickte ängstlich zu ihm auf. Hinter ihm in der Dunkelheit war das Plätschern des Abwassers zu hören. Er spürte den Rauch in den Lungen, hörte das Rasseln, wenn er sprach.
»Ich habe Celeste nicht gesehen. Ich konnte sie nicht finden.«
Svensons Stimme klang ebenfalls rau. »Sie waren mit diesem Kerl beschäftigt – Sie haben uns alle gerettet.«
»Nein, Doktor, das habe ich nicht .«
»Celeste hat die Explosion ausgelöst. Sie hat auf die Uhr geschossen. Ich weiß nicht, wie sie erraten hat, dass sich dort eine weitere Sprengladung befand. Wer weiß, wie viele Leben sie gerettet hat – wenn sie morgen losgegangen wäre …« Svenson legte sich eine schmutzige Hand über die Augen. »Ich habe nur das Kind erwischt …«
»Ich mache Ihnen keine Vorwürfe …«
»Die mache ich mir selbst – ziemlich heftige sogar. Sie war … Gott … ein bemerkenswertes und mutiges Mädchen …«
»Ich will den Kopf dieses Schweinehunds …«
Changs Worte hallten durch den Abwasserkanal. Doktor Svenson stand mühsam auf und legte Chang eine Hand auf die Schulter. Chang drehte sich zu ihm um.
»Sind Sie gut genug in Schuss, um weiterzugehen?«
»Natürlich, aber …«
Chang zeigte auf eine Holztür oberhalb der Treppe. »Sie werden in den Straßen hinter der Kathedrale sein – die Explosion wird ihr Auftauchen erklären, und Sie sollten sich frei bewegen können.« Er blickte zu Francesca. »Bringst du den Doktor dorthin, wo ihn die Contessa haben wollte?«
Das Kind nickte. Chang drückte Svensons Arm und hob die Laterne auf. »Viel Glück«, brachte er heraus und marschierte in die Dunkelheit hinein.
»Chang! Sie werden gebraucht. Sie werden lebend gebraucht!«, rief ihm der Doktor nach.
Chang sprang mit Anlauf über den stinkenden Strom. Sie waren von ihm abgeschnitten. Er fiel in Laufschritt, wobei er bereits in Gedanken bei dem war, was er als Nächstes tun würde.
Die große Bibliothek war wie alle öffentlichen Einrichtungen ein Ort der Privilegien und Präferenzen. Drinnen bot sie kunstvolle Nischen, wie gestiftete Kapellen in einer Kathedrale, die private Sammlungen beherbergten, welche die Bibliothek der Universität oder dem Royal Institute hatte abluchsen können. Auch wenn jede Nische nur ein oder zwei bibliographische Juwelen enthielt, so zogen diese Sammlungen mehr Staub als Besucher an, weil der Zugang nur mit einem Empfehlungsschreiben gewährt wurde. Chang hatte sie ganz zufällig entdeckt, als er nach neuen Wegen gesucht hatte, um auf das Dach zu gelangen. Stattdessen hatte er den verborgenen Flügel des sechsten Stockwerks gefunden, und mit ihm den alten Jesuitenpriester.
Der Fluister-Nachlass hätte unter normalen Umständen Changs Interesse nicht geweckt. Die Laune eines Admirals, in dem die Neugier auf heidnische Religionen durch eine Versetzung auf die Westindischen Inseln geweckt worden war und der sein Prisengeld großzügig für den Erwerb sämtlicher Bücher über Ureinwohner, Esoterisches, Häretisches oder Obskures ausgegeben und gezielt der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hatte – Chang sah darin eine unsinnige Verschwendung eines Vermögens. Für die Kirche stellte Admiral Fluisters Nachlass – der durch das entsprechende Geflüster in die entsprechenden Ohren an diesem unzugänglichen Ort gelandet war – einen regelrechten Giftschrank dar.
Der Bischof versuchte es auf freundlichem Weg, indem er die Dienste eines gelehrten Paters anbot, der eine solche wahllose Sammlung katalogisieren sollte. Die Bibliothek, der es
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