Traumfresser 3 - Die Alchemie des Bösen
Adresse unter dem Namen Phelps war eine Gerberei auf der Südseite des Flusses. Dort konnte ein Ministerialbeamter nicht leben. Es war auch ein idiotisches Unterfangen gewesen – wie viele in der Stadt mieteten, wie sie selbst, Zimmer in einem Hotel oder Wohnhaus, ohne irgendwo als Eigentümer eingetragen zu sein? Sie würde die Aufgabe, Phelps zu finden, Pfaff übertragen. Sie stand auf und blickte auf den Stapel schwarzer Bücher, wobei sie sich fragte, ob sie diese ins Regal zurückstellen sollte, bevor sie zu dem Schluss kam, dass das lächerlich war.
Doch dann eilte Miss Temple zu der Leiter und schob sie geräuschvoll zu den Bänden mit R. Sie musste zweimal hinaufklettern, um sie alle zum Tisch zu schaffen, aber sie brauchte nur fünf Minuten, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Andrew Rawsbarthe war Roger Bascombes persönlicher Assistent gewesen. Rawsbarthe, eine weitere Drohne, die Mrs. Marchmoor geopfert hatte, war in Harschmort House umgekommen. Von Roger hatte Miss Temple erfahren, dass Rawsbarthe der letzte seiner Familie war und allein in einem geerbten Haus lebte. Als Phelps einen Ort gesucht hatte, um sich zu verstecken, konnte es kaum etwas Besseres geben, als das verlassene Heim eines Untergebenen, den niemand vermisste. Miss Temple notierte sich die Adresse in ihrem Notizbuch.
Die Freude über ihre Entdeckung verwandelte sich rasch in Selbstvertrauen, und Miss Temple entschloss sich, zu Fuß zurückzukehren. Ihr Weg führte sie durch Alleen, die von Banken, Handelshäusern und Versicherungsgesellschaften gesäumt waren, und obwohl Miss Temple nicht groß war, kam sie in dem Gedränge auf den Bürgersteigen nur unter Rempeleien und Flüchen voran, ohne dass sich jemand entschuldigt hätte. Es war die gleiche Unzufriedenheit, die sie bereits im Circus Garden wahrgenommen hatte, jedoch wesentlich deutlicher. Sie wandte sich zu einem Pulk von Männern um, die aus dem Getreide-Syndikat stürmten und Beleidigungen über die Schultern riefen, und sie wurde beinahe von zwei Schutzmännern über den Haufen gerannt, die mit gezückten Schlagstöcken auf sie zusteuerten. Ernüchtert wandte sich Miss Temple den Teegeschäften in der St. Vincent’s Lane zu, wo man stets eine Kutsche finden konnte. Die Stadt war in Aufruhr, ein blindes Aufbegehren, das einem lediglich unangenehme Bilder von enthauptetem Federvieh ins Gedächtnis rief.
Als sie die Lobby durchquerte, lenkte der Empfangschef ihre Aufmerksamkeit auf sich und hob einen roten Umschlag.
»Es ist keine zehn Minuten her«, sagte er.
»Von wem ist er?« Soweit sie es erkennen konnte, war der Umschlag nicht beschriftet. »Wer hat ihn gebracht?«
Der Empfangschef lächelte. »Ein kleines Mädchen. ›Das ist für Miss Celeste Temple‹, hat sie gesagt. Sie hatte beinahe die gleiche Haarfarbe wie Sie – etwas heller vielleicht, fast wie Purpur, und ganz helle Haut. Ist sie eine Nichte?«
Miss Temple fuhr herum, und die plötzliche Bewegung zog die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich.
»Sie ist weg.« Der Empfangschef zögerte. »Sie ist in einen eleganten geschlossenen Einspänner gestiegen. Kennen Sie sie nicht?«
»Doch – natürlich –, ich hatte nicht erwartet, dass sie so bald hier wäre. Danke.«
Es musste Francesca Trapping gewesen sein. Doch wie konnte die Contessa so vertrauensvoll sein, das Kind selbst hineinzuschicken – hatte sie keine Angst, das Mädchen würde davonlaufen? Was hatte man mit ihr gemacht?
Unter den Blicken der anderen ging Miss Temple ruhig zur Hintertreppe. Sie zückte den Revolver und machte sich an den Aufstieg.
Die Tür zu ihren Räumen schwang unter ihrem Stoß geräuschlos auf, bevor sie von dem abgebrochenen Bein des Stuhls, den Marie unter den Türknauf geklemmt hatte, aufgehalten wurde. Miss Temple warf einen Blick auf den zusätzlichen Riegel: abgerissen.
Mit angehaltenem Atem betrat sie vorsichtig den Vorraum, während ihre Augen – und der Pistolenlauf – zu jedem Möbelstück schnellten. Die Tür des Dienstmädchenzimmers stand offen. Marie war nicht da.
An ihrer Schlafzimmertür war ein zweiter roter Umschlag mit einem Messer festgenagelt worden. Miss Temple zog es heraus. Auf das Geräusch hin erklang ein Angstschrei aus dem Innern.
»Marie?«, rief Miss Temple. »Bist du verletzt?«
»Mistress? Oh, du lieber Himmel! Mistress …«
»Bist du verletzt, Marie?«
»Nein, Mistress – aber das Geräusch …«
»Marie, komm bitte heraus. Sie sind weg. Dir passiert nichts.«
Miss
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