Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Blick in den Himmel. Macy weicht einem Mann aus, der energischen Schrittes die Straße entlangläuft und dabei fast seinen schwarzen Aktenkoffer gegen ihre Beine geschlagen hätte. Ihre wütenden Flüche zaubern Hailey ein Lächeln aufs Gesicht.
»Ich hatte einen Albtraum.«
Diese Worte wischen das Lächeln von Haileys Gesicht. Seit sie denken kann, hatte Macy nie einen bösen Traum.
»Was hast du angestellt?«
Ihre beste Freundin zuckt mit den Schultern und beißt sich auf die Lippen.
»Oh.«
Mehr bringt Hailey nicht über die Lippen. Manchmal passiert es, dass die Regierung entscheidet, ein Leben zu zerstören.
»Die Regierung hat Gründe, die wir nicht verstehen«, pflegt Eleonore stets zu sagen.
Mitfühlend streift Hailey mit ihrer Hand über Macys Rücken, doch diese schüttelt sie sofort ab und setzt ein strahlendes Lächeln auf.
»Schon okay. Ich bin nur etwas müde und ausgelaugt.«
Ohne ein weiteres Wort zu wechseln machen sie sich auf den Weg in die Schule. Autos rasen an ihnen vorbei, während die Freundinnen ihren eigenen Gedanken nachhängen.
»Ich hasse es, dass sie das tun können.«
»Psssscht!«, zischt Macy und sieht sich hektisch nach allen Seiten um. Niemand beachtet sie.
»So etwas darfst du nicht sagen. Immerhin sorgen sie dafür, dass ich weiterleben kann. Ohne die Regierung – «
»Hätten dich längst die Seelenfresser erwischt. Ich weiß.«
Hailey hat die Stimme gesenkt, doch Macys Augen irren noch immer umher.
»Wir dürfen nicht darüber sprechen. Wenn uns jemand erwischt ...«
»Dann was? Macy, mir kann kaum etwas Schlimmeres passieren.«
»Aber Hailey ...«, setzt Macy an, doch sie lässt den Satz unvollendet, da sie weiß, dass ihre Freundin Recht hat. Ohne kontrollierte Träume könnte sie jede Nacht sterben. Genau genommen müsste sie schon lange tot sein.
Je näher sie der Schule kommen, desto dichter wird das Menschengedränge um sie herum. Ein Strom aus lachenden Schülern in blauen Uniformen schiebt Hailey und Macy in das riesige Glasgebäude.
»Mathe, oder?«
Hailey nickt. Als sie das Klassenzimmer betreten, herrscht dort reges Treiben. Erschöpft lassen sich die Freundinnen auf ihre Plätze sinken und ziehen synchron die Hefte aus ihren Taschen.
»Wie jeden Morgen.«
»Wie jeden Morgen«, wiederholt Hailey zustimmend und lacht. Sie weiß, dass Macy Regelmäßigkeit braucht und liebt.
Als die Lehrerin das Klassenzimmer betritt, kehrt schlagartig Ruhe ein. Niemand möchte negativ auffallen, zu groß ist die Angst vor einer Notiz. Ein kleiner gelber Zettel mit dem eigenen Namen und einem Kreuz bei »auffällig« kann für mehrere schlaflose Nächte sorgen. Die Beamtin ist sich ihrer Macht bewusst und demonstriert sie, indem sie zuerst den Block auf den Tisch legt. Ein Zettel, wenige Buchstaben und schon ist ein glückliches Leben vorbei. Da Hailey nicht träumen kann, fürchtet sie sich nicht wirklich vor den Notizen. Dennoch verhält sie sich ruhig und anständig. Sie will kein Risiko eingehen.
Alle schweigen. Als Hailey ihrer Sitznachbarin einen Blick zuwirft merkt sie, dass Macy zittert. Beruhigend greift Hailey nach ihrer Hand und hält sie fest.
»Guten Morgen.«
Macy zuckt zusammen, als die Lehrerin ihre Klasse begrüßt.
»Guten Morgen Frau Arndt«, antworten die Schüler gleichzeitig.
Ein zufriedener Ausdruck legt sich auf die strengen Gesichtszüge, die von den stramm nach hinten gekämmten Haaren unterstrichen werden. Sie zupft ihren grauen Blazer zurecht, der zum farblich abgestimmten Rock passt und startet den Beamer, welcher daraufhin sofort einen Graphen an die Wand projiziert. Innerlich stöhnt Hailey auf, doch äußerlich bleibt sie gelassen und schlägt ihr Heft auf, um den Graphen abzuzeichnen. Macy ist noch immer wie erstarrt. Mit ihrem Ellbogen stößt Hailey ihr unauffällig in die Rippen und sofort beginnt ihre beste Freundin mit dem Abzeichnen. Glücklicherweise hat niemand etwas bemerkt.
Sobald die Klingel ertönt und Frau Arndt den Raum verlassen hat, wendet Hailey sich Macy zu.
»Was ist los?«, flüstert sie und erstarrt, als sie merkt, dass ihre Freundin weint.
»Sie war es. Sie hat mir eine Notiz aufgedrückt!«
»Warum sollte sie?«
»Erinnerst du dich noch daran, als der Wasserspender kaputt war?«
Hailey nickt, jetzt ist ihr alles klar. Sie erinnert sich sehr gut an den Wasserhahn, der plötzlich ein Eigenleben entwickelte und einen Schwall Wasser über Frau Arndt ergoss, als Macy gerade trinken wollte.
»Aber du
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