Traummoerder
Abbildung von Hieronymus Boschs Triptychon Garten der Lüste – ein sitzender Vogel in entzückend grünem Jäckchen, der eine nackte Frau verschlang, während eine Schar schwarzer Vögel aus ihrem Hinterteil aufflog. Als Lucy zum ersten Mal in der Schule Bekanntschaft mit diesem Bild gemacht hatte, war sie entsetzt und fasziniert zugleich gewesen und hatte sich gefragt, ob dies ursprünglich Inhalt eines persönlichen Albtraums gewesen war, den möglicherweise der Maler selbst erlebt hatte.
Lucy war Krankenschwester im Children’s Hospital und nutzte eine Arbeitspause, um sich in die Abstellkammer zurückzuziehen, in der Sauerstoffbehälter, Ammoniakflaschen, Wundbenzin, Schachteln mit Latexhandschuhen, Flüssigseife und anderer Krankenhausbedarf aufbewahrt wurden. Die Kammer war winzig, hatte kein Fenster und wurde tagsüber selten genutzt – ein ruhiger, friedlicher Ort also, der sich bestens für eine Online-Sitzung mit dem Traumheiler eignete.
Sie musterte ihr Gesicht in dem kleinen Fenster am unteren Bildschirmrand – dasselbe Bild würde der Heiler auf seinem PC empfangen. Sie überflog die Website. »Sprich mit mir« war der Link, den sie suchte. Sie klickte ihn an.
Am Tag zuvor hatte ihr ein Obdachloser vor der Klinik den Flyer in die Hand gedrückt. Lucy legte Wert darauf, Flugblätter von Menschen, die weniger Glück hatten als sie selbst, bereitwillig anzunehmen, auch wenn sie ihnen lediglich einen flüchtigen Blick gönnte, ehe sie sie in den nächsten Abfalleimer warf. Dieses Mal allerdings hatte sie das Design neugierig gemacht – Boschs berühmtes Werk hatte immer schon zu ihren Lieblingsbildern gehört. Sie hatte den Flyer ordentlich zusammengefaltet in ihre Handtasche gesteckt und prompt vergessen. Später am Abend nahm sie ihn aus der Tasche und las, was darauf stand. »Sind Ihre Träume die Ursache für Schmerz und Ängste? Lassen Sie sich vom Traumheiler helfen. Der Heiler bringt Ihnen Ihren Seelenfrieden zurück.«
Lucy hatte lebhafte Träume, das stimmte, und in den meisten kam Feuer vor. Aber ein spezieller, der beinahe jede Woche wiederkehrte, unterschied sich von den üblichen Albträumen. Sie las weiter. »Erzählen Sie dem Traumheiler Ihre schlimmsten Albträume. Laden Sie Ihre Ängste bei mir ab, und ich bringe Ihnen Ruhe.« Das klang mit jedem Wort besser. Vielleicht konnte ihr dieser Mann ja wirklich helfen. »Ich bin Philanthrop und verlange deshalb kein Honorar. Zu erleben, wie Sie Ihren Frieden finden, ist mir Lohn genug.« Womöglich gelang es diesem Heiler sogar, alle Träume aus ihrem Schlaf zu vertreiben.
Sie hatte große Lust, sofort online zu gehen, war jedoch so erschöpft, dass sie beschloss, damit bis zur Mittagspause am nächsten Tag zu warten.
Plötzlich verwandelte sich das Bosch-Gemälde auf dem Bildschirm zur Silhouette einer menschlichen Gestalt, die von hinten beleuchtet war, wie man es in Fernsehkrimis oft sah, wenn eine Person die Identität nicht preisgeben wollte. »Ich bin der Traumheiler. Sprich mit mir.« Die heisere Stimme klang wie knirschender Kies.
Lucy kicherte. Falls es der Traumheiler darauf abgesehen hatte, ihr einen Schrecken einzujagen, musste sie ihn enttäuschen, aber sicherlich konnte er vielen Jugendlichen mit diesem theatralischen Auftreten Angst machen. Ihr Blick fiel auf ihr eigenes Gesicht am unteren Bildschirmrand, und sie strich sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. Diese Sache versprach, lustig zu werden.
»Sprich mit mir!«, rief der Traumheiler noch einmal. Das war kaum der freundliche Tonfall, der einen Fremden einlud, seine innersten Geheimnisse preiszugeben, dennoch fühlte man sich gezwungen, zu antworten.
»Mein Name ist Lucy.«
»Lucy. Erzähl mir von deinen Träumen, mein Kind. Ich werde dir Frieden bringen.« Die Stimme klang jetzt sanfter, fast ermutigend. Lucy hatte das Gefühl, als hätte sich ein Arm um ihre Schultern gelegt – der Arm eines Onkels, der ihr Hilfe bei einem persönlichen Problem anbot.
Lucy hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.
»Schildere mir deinen Traum, mein Kind. Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Ich bin hier, um dir den süßesten Schlaf zu schenken, den du dir vorstellen kannst. Ich bin dein Freund und Retter.«
Sie zögerte, begann dann aber doch: »Ich habe seit meiner Kindheit immer denselben Traum.«
Sie hielt inne – mit einem Mal zauderte sie.
»Hör nicht auf, mein Kind«, forderte sie der Traumheiler beschwichtigend auf.
»In meinem Albtraum bin ich
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