Traumreisende
Alles an diesem Kind wirkte jäh und plötzlich, ständig verändert und verwirrend.
Das letzte Jahr war, soweit viele Generationen sich erinnern konnten, für ihr Volk physisch und spirituell das schwierigste gewesen. Nachrichtenstäbe, die von Läufern mehrere Jahre getragen worden waren, hatten von weißen, geisterhäutigen Leuten berichtet, die großen Schaden anrichteten, indem sie ganze Stämme töteten oder entführten. In diesem Jahr waren benachbarte Gruppen und kürzlich auch ihr eigenes Volk zusammengetrieben und hinter Zäunen und Mauern eingesperrt worden.
Wieder durchlief sie eine Welle heftigen Schmerzes. In ihrem Kampf, die Luft in kurzen Stößen auszuatmen, um die Wehen erträglich zu halten, konnte sie gerade noch denken: Willkommen, Kleines. Komm jetzt, heute ist ein guter Tag, um geboren zu werden. Noch ein paar keuchende Atemzüge, ein Ächzen aus tiefster Kehle, und da war sie: ein perfekt geformtes kleines Mädchen mit der typischen breiten Nase ihrer Vorfahren.
Die Mutter nahm das schleimbedeckte Neugeborene in die Arme. Sie hielt das Baby vor sich, schaute direkt in die glänzendschwarzen Augen des schweigenden Säuglings und sagte: »Du sollst wissen, dass du auf dieser Reise geliebt und unterstützt wirst! Ich spreche von dem, was hinter meinen Augen ist, aus meinem Ewigen Teil, zu dem, was hinter deinen Augen ist.« Sie nahm das Kind auf den rechten Arm und hob mit der linken Hand warmen Sand auf, mit dem sie das Baby abzureiben begann. Als der Staub abfiel, war die Schicht aus blutigem Schleim verschwunden und enthüllte die zarte Haut des Neugeborenen. Das Kind begann sich zu rühren. Die Mutter musterte das neugeborene Wesen, während sie es weiter sanft abrieb. Zuerst merkte sie, dass der runde kahle Kopf groß genug war, um manches Wissen und einen friedlichen Geist zu beherbergen; dann sah sie, dass der kleine gewölbte Oberkörper und Bauch ein warmes Herz und einen gesunden Appetit verhießen. Die Kleine hatte lange Läuferbeine mit guten breiten Zehen und winzige Hände, die sich in der neuen Freiheit kräftig bewegten. Der Körper war vollkommen. Es gab keinen physischen Makel, der dieses Leben erschweren würde.
Die Mutter legte ihren Mund auf die winzigen Lippen und dachte dabei: Ich vermische meine Luft mit der Luft allen Lebens, damit sie in deinen Körper eindringt. Du bist niemals allein, du bist mit der ganzen Göttlichen Einheit verbunden. Während sie das Kind sanft streichelte und die Geburtsrückstände rund um seine Augen und die Nase entfernte, sagte sie: »Heute nacht wirst du auf den Gräbern deiner Ahnen schlafen, und eines Tages wirst du darüber gehen. Die Nahrung, die du essen wirst, wächst aus den Knochen und dem Blut der Großeltern unserer Großeltern.«
Dann betrachtete sie die Genitalien ihres Babys und dachte: Ewiger Geist, du bist zu einer Mutter-Tochter-Erfahrung gekommen. Ich ehre deine Entscheidung, durch mich zu kommen. Das Baby gab leise gurgelnde Geräusche von sich, als wolle es seine Stimmbänder erproben, während die Mutter fortfuhr, dieses winzige Stückchen Leben mit warmem Sand abzureiben, bis das Neugeborene ganz sauber war. Dann nahm sie eine kleine Holzschale mit geschwungenen Rändern, die sie in der Nähe abgestellt hatte, und bettete das Kind hinein. Sie stellte das Gefäß in eine Vertiefung im Boden und achtete darauf, dass der Kopf des Kindes tiefer lag als die Füße.
In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass ihr Atem wieder stoßweise ging, da der restliche Inhalt ihres Schoßes ausgestoßen wurde. Doch statt des erwarteten Mutterkuchens erschienen ein Kopf, Arme und Beine: noch ein Kind, etwas größer, ein Junge. Sie dachte: Woher bist du gekommen? Aber laut, als geschehe es automatisch, wiederholte sie den uralten Gruß, der seit Beginn der Zeiten gesprochen wurde, die Formel, die alle Stammesmitglieder als erstes vernahmen: »Du sollst wissen, dass du auf dieser Reise geliebt und unterstützt wirst!« Sie atmete in den Mund des Neuankömmlings hinein und rieb auch ihn rasch mit Sand ab. Ihre Gedanken und ihr Gesichtsausdruck wechselten zwischen Lächeln und verblüfftem Staunen. Zwei Babys! Sie sind schön! Aber zwei Babys auf einmal - das ist nicht die Art des Menschen.
Während die Mutter fortfuhr, das unerwartete Kind mit der warmen Erde abzureiben, hielt es mit außergewöhnlicher Kraft und Entschlossenheit den Kopf hoch. Auch sein Körper schien ohne physische Mängel zu sein. Das Mann-Kind streckte Arme und Beine
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