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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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Rhythmus. Tatsächlich hatte dieses Volk keinerlei Lieder religiöser Natur. In seiner ganzen Geschichte war nur eine geringe kulturelle Entwicklung auszumachen. Da die einzigen Worte, die die Ureinwohner in Musik umsetzten, absurde Geschichten zu sein schienen, blieb das Harmonium in der schützenden Obhut des weißen Wohnzimmers. Das Haus hatte nackte Holzböden und enthielt eine Reihe europäischer Möbel. In beiden Schlafzimmern gab es den traditionellen Waschtisch und die Tonschüssel, und nur im Gästezimmer wies der Nachttopf handgemalte Rosen auf, die zu denen auf der Rasierschale für männliche Besucher passten. Auf der Nordseite des Hauses befand sich ein Wasserfass auf einem hohen Gestell, von dem aus Rohre ins Haus führten. Die Küche hatte fließendes Wasser, eine moderne Errungenschaft für einen so entlegenen Ort. Obwohl der Wasserturm für die Bevölkerung der ganzen Gemeinde mehr Wasser fasste, war der persönliche Vorrat der Enrights immer größer.
    In der Mitte des Komplexes lag ein kahler, von einem Dach auf vier Pfosten überdeckter Bereich, wo der Versuch unternommen worden war, einen zentralen öffentlichen Essplatz zu schaffen. Aber das war kein Erfolg gewesen. Die fremde Verwaltung übersah, dass man kleine Stammesvölker, einige davon Erzrivalen, nicht zusammenzwingen und über Nacht das erreichen konnte, was der weiße Mann sich unter Frieden und Harmonie vorstellte. Für die Enrights und ihre europäischen Freunde waren alle Schwarzen gleich, ungeachtet ihres Stammes. Dieselbe Geduld war erforderlich, um ihnen den Gebrauch von Löffel, Gabel und Essnapf beizubringen. Messer waren nicht erlaubt. Auf dem ganzen eingezäunten Gelände lagen verstreut die Hütten der Aborigines, die die Weißen »Humpies« nannten. Es waren rohe runde Bauten, die aussahen, als sei einfach ein Haufen Pappe, Blech und Äste vom Himmel gefallen. Zimmer oder trennende Wände waren für die Ureinwohner überflüssig. Die Hütten boten Schatten und Schutz vor dem Himmel. Herkömmlicherweise bauten die Nomadenstämme selten eine Behausung, da ihr Leben eine ständige Wanderschaft war.
    Diese Siedlung beherbergte die Überreste von zehn verschiedenen Volksgruppen, jede mit ihren einzigartigen Bräuchen und Überzeugungen und ihrer eigenen Sprache. Die Gefangenen verstanden sich untereinander nicht sehr gut, und nur wenige konnten Englisch, was die einzig erlaubte Sprache war. Manche, wie die junge Mutter, waren intelligent und lernten besonders schnell, doch die meisten schienen sich die Kenntnisse nicht sehr rasch aneignen zu können. Sie waren von gelassener Natur, angenehmem Wesen und sehr vertrauenswürdig. Was die weiße Welt nicht begriff, war die Tatsache, dass diese Stammesmitglieder ihre Lage so verstanden, als befänden sie sich auf dem Gebiet eines anderen Stammes, auf Land, das von »songlines« markiert war und dessen Hüter verschwunden waren. Jetzt hatten die Weißen das Sagen, aber die waren offensichtlich keine Hüter. Die Aborigines wussten, dass sie Gefangene waren, glaubten aber dennoch, sie müssten sich wie Gäste verhalten, die in jemandes anderen Kreis eingeladen worden waren. Es war nicht schwierig, sie zum Christentum zu bekehren, als sie begriffen hatten, dass dies das neue Gesetz war, und ihnen ferner erklärt worden war, Jesus sei ein Held.
    Die Kirchenleute wussten nicht, dass die Aborigines große Achtung vor Helden hatten. Ihre Lieder und Tänze, die seit Jahrtausenden überliefert waren, handelten von vielen heroischen Menschen und Taten. Jesus war ein großer Heiler, der Menschen von den Toten auferstehen lassen konnte. Durch die Werke ihrer eigenen Heiler waren sie mit der Auferstehung der Toten vertraut. Da der Vater von Jesus die Welt erschaffen hatte, musste dieser Vater einer ihrer eigenen Ahnen gewesen sein. Reverend Enright mit seinem roten Haar und dem vollen roten Bart erwies sich als überaus überzeugend, wenn er feststellte, dass es in bezug auf die Ewigkeit nur eine einzige Wahl gebe. Man konnte im Himmel enden, wenn es der Wille Jesu ist, oder - wenn man gegen ihn war - für alle Ewigkeit in der Hölle landen. Die Menschen verstanden, wie lang die Ewigkeit ist, aber sie hatten nie eine Vorstellung von einem Ort wie der Hölle gehabt.
    Die junge Mutter verbrachte den Vormittag in einem Zustand völliger Verwirrung. Sie konnte ihre Babys und ihre Schwestern nicht finden. Niemand war da, um mit ihr zu reden. Es war ihr verboten, das Grundstück der Enrights zu betreten,

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