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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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hergegeben, die Lebenskraft des Empfängers zu erhalten. Es handelte sich um ein zutiefst bedeutsames System der gegenseitigen Ehrung. Alle Dinge hatten einen zu ehrenden Zweck, ein positives Ziel, und das geriet niemals in Vergessenheit, auch wenn es nicht unter allen Umständen so aussah. In einer scheinbar kahlen Umgebung gab es Nahrung über und unter der Erde, im Wasser, am Himmel, in Nestern und Erdlöchern, toten und lebenden Bäumen, Termitenhügeln und Höhlen. Jede Nahrung wurde erbeten, erwartet und dankbar angenommen. Man hielt sie nicht für selbstverständlich, aber die Menschen hatten auch nicht das Gefühl, sie müssten arbeiten, um sie sich zu verdienen. Ununterbrochen waren sie sich dessen bewusst, dass der Große Geist, eine Göttliche Macht, durch ihre Vorväter gesprochen hatte und dies weiterhin tat durch die Ungeborenen, die Elemente und die ganze Schöpfung. Die Welt und alles Leben entfalteten sich auf eine vollkommene Weise, und jedes Leben war ein entscheidender, wichtiger Teil des Ganzen.
    Es bestand ein deutlicher Unterschied zwischen dem Wissen, wie Beatrice es verstand, und der Weisheit, nach der der Stamm der >Wahren Menschen< lebte. Googana, dem Regenmann, zufolge war Wissen Erziehung, Lernen, das aus der Erfahrung oder den Lehren eines Lehrers herrühren konnte oder aber, wie in der Welt der >Veränderten<, aus Büchern und anderen modernen Erfindungen, die sie entwickelt hatten.
    Wissen war etwas völlig anderes als Weisheit. Als Weisheit galt dem Stamm die Art, wie man sein Wissen anzuwenden beschloss. Weisheit verlangte möglicherweise ein bestimmtes Verhalten, aber vielleicht bestand das gerade darin, nichts zu tun. Die älteste Frau, Wurtawurta, sprach zu Beatrice: »Wasser, das durch die hohlen Hände rinnt, ist ein Leben ohne Weisheit.
    Wasser, das in einem Gefäß enthalten ist, damit man es trinken kann, ist anders. Beides ist wohltuend und zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten nützlich, aber ein Leben ohne Weisheit müsste notwendigerweise an einem anderen Ort und auf einer anderen Ebene wiederholt werden. Sonst geht zuviel Wahrheit verloren.«
    Eines Nachmittags während ihrer Reise wandte Beatrice sich an Wurtawurta und fragte: »Wurdest du in diesen Stamm hineingeboren? Ich würde gern mehr über dich erfahren.«
    »Möchtest du meine Geschichte hören?« fragte Wurtawurta mit ihrem sanften alten Gesicht. »Gut, ich werde sie dir genau so erzählen, wie man sie mir vor vielen, vielen Jahren erzählt hat.
    Es war ein strahlender Tag. Das Meer, das ans Ufer schlug, schuf einen Rand aus Schaumblasen im goldenen Sand, die sich mit jeder neuen Welle leerten und füllten. Die Fischer warfen ihre Netze ins warme Wasser, und man hörte fröhliche Rufe, wenn besondere Exemplare gefangen worden waren.
    Braunhäutige Jungen und Mädchen spielten am Strand und trugen jeden Fang nach hinten an das baumbestandene Ufer, wo die Frauen waren, um das Mahl zu bereiten. Alle aus der Gemeinschaft waren anwesend - mit Ausnahme von drei Frauen. Die jüngste Stammesbraut gebar gerade ein Kind an einem geheiligten Ort im Landesinneren, und ihre Mutter und die Tante standen ihr bei. Sie hatten sich von Früchten und getrockneter Schildkröte ernährt, aber da die Geburt offensichtlich kurz bevorstand, würde man der jungen Mutter später am Tag frischen Fisch bringen.
    Die Geburt war nicht schwer. Die junge Braut war sehr gesund und hatte sich und den Fötus auf seinen Eintritt in die Welt vorbereitet. Das neugeborene Mädchen wurde von seinen Verwandten liebevoll begrüßt. Die neue Großmutter reinigte das Kind mit Öl und den weichsten Teilen von großen gespaltenen Blättern, die man an diesem Tag hergerichtet hatte, bevor sich die ersten Wehen bemerkbar gemacht hatten.
    Wie es bei diesem Volk üblich war, würden Mutter und Kind drei Tage in der Zurückgezogenheit verbringen, damit der neue Vater und die Gemeinschaft Zeit hätten, sich auf die Weihe des Kindes vorzubereiten, und damit die Mutter sich reinigen und erholen könnte.
    Mutter und Kind lagen zusammen auf einem Bett aus frischem grünem Gras. Alle Blätter, die während der Geburt benutzt worden waren, wurden rituell verbrannt. Dabei wurde noch ein Zusatz verwendet, damit der aufsteigende Rauch stärker qualmte. Das würde allen in der Nähe verkünden, es sei nicht die richtige Zeit, um diesen Ort aufzusuchen. Der schwarze Qualm würde auch den unsichtbaren Ahnengeistern im Himmel mitteilen, dass der Geist des Kindes heil

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