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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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zeigte ihr breites Lächeln und fügte hinzu: »Das ist kein Urteil, sondern eine Beobachtung.«
    In diesem Augenblick erscholl wie in Wellen ein seltsames dröhnendes Geräusch über die offene Ebene. Die Töne wechselten von hoch zu tief und setzten sich in einem unheimlichen, atemlosen Heulen fort.
    »Was in aller Welt ist das?« fragte Beatrice. Benala legte den Zeigefinger an die Lippen, um ihr zu bedeuten, sie solle still sein. Sie lauschte den Tönen, bis sie aufhörten, und sprach dann: »Das kommt von unserem Volk, das uns sagt, wir sollen kommen. Einstweilen bist du am Außenrand ihres Kreises willkommen. Sie benutzen eine uralte Methode der Kommunikation, ein besonderes Stück flaches Holz, das an ein Seil gebunden ist. Es wird herumgewirbelt und macht darin Geräusche, die Worte bilden und eine Botschaft aussenden. Hier in der offenen Ebene sind sie über weite Entfernungen zu hören, und sie sind sehr hilfreich, wenn es nicht möglich ist, von Kopf zu Kopf oder Herz zu Herz zu sprechen.«
    Die beiden Frauen machten sich wieder auf den Weg und hielten nur einmal an, um zu trinken und zu essen. Benala hatte sie zu einer kleinen Reihe von Pflanzen geführt. Sie kniete nieder und bat jede um Erlaubnis, dort ein Loch zu bohren, das sich sofort füllte, als dunkles Wasser hineinsickerte. Beide Frauen schöpften das Wasser mit den Händen daraus und tranken es dankbar. Beatrice begann zu verstehen, dass Wasser nicht jeden Tag eine Selbstverständlichkeit war. Benala zog zwei der Pflanzen aus der Erde, gab ihrer Gefährtin eine davon und zeigte ihr, wie sie die Wurzeln von Erde befreien sollte, bevor sie sie aß, und auch, wie man den zartesten Teil des Stengels verzehrte. Nach einer kurzen Rast gingen sie weiter. Nach dreißig Minuten konnten sie die höchste Bodenerhebung sehen, auf die sie an diesem Tag gestoßen waren. »Die Leute warten auf der anderen Seite im Schatten auf uns«, sagte Benala.
    Beatrice fragte sich, wie sie wohl sein mochten: Aborigines, von denen viele noch nie eine Stadt gesehen hatten und die hofften, der Gefangennahme zu entgehen? Sogenannte Primitive, die ihr ganzes Leben, von der Geburt bis zum Tod, ohne irgendwelchen modernen Komfort verbrachten? Waren ihre Eltern dumm, heidnisch und nicht ganz menschlich gewesen, wie die Missionsschule ihr immer wieder einzuhämmern versucht hatte, oder intelligent und friedliebend, wie Benala sie beschrieben hatte? Was würde sie auf der anderen Seite des Hügels vorfinden? Würde sie es bereuen, hierher gekommen zu sein? Auf der ganzen restlichen Strecke dachte sie über die Situation nach, bis sie endlich einen kleinen dunklen Fleck ausmachte, der sich auf sie zu bewegte. Als er immer näher kam, erkannte sie, dass es eine andere Aborigine-Frau war.

    Sie trug ein herzliches Willkommenslächeln, und um ihre Hüften hing ein Beutel an einer geflochtenen Schnur. Weiche braune Haut und der straffe schlanke Hals verrieten, dass sie jung war. Benala und das Mädchen gingen schneller, bis die Jüngere schließlich zu laufen begann.
    »Es ist heute«, sagte Benala, als sie das Mädchen in die Arme schloss.
    »Es ist heute«, wiederholte die andere. Sie wandte sich an Beatrice und sagte: »Du bist zu uns gekommen. Wir hoffen, du findest, was du brauchst. Ich werde dich zu unserem Kreis bringen.« Zu dritt gingen sie Seite an Seite weiter.
    Sandstürme hatten auf dem felsigen Untergrund eine große Bodenerhebung geschaffen. Während die drei Frauen den Hügel umrundeten, erblickten sie auf der anderen Seite eine Aushöhlung mit einem schützenden Überhang. Darunter saßen vier Menschen auf der Erde, zwei Frauen und zwei Männer.
    Einer der Männer hatte langes weißes Haar und einen vollen weißen Bart. Er wirkte so sanft und freundlich, dass man ihn in der Stadt sicher mit Sankt Nikolaus angeredet hätte. Der andere Mann war jünger. Sein Haar schien mit irgendeiner Art Faden umwickelt zu sein, der es eng am Kopf hielt. Sein Gesicht war schmal, seine Arme fast vogelähnlich, aber sein Körper wirkte stark und muskulös. Das Alter der einen Frau war schwer zu schätzen. Ihr Haar wies keinerlei Grau auf, obwohl sie wegen der vielen tiefen Falten um Augen und Mund nicht mehr jung zu sein schien. Die andere Frau hatte schneeweißes Haar. Über dem rechten Ohr trug sie eine kleine Vogelfeder, die man, wenn man nicht genau hinschaute, leicht für einen Teil ihres ungebärdigen Haars hätte halten können. Auf ihre Brust waren weiße Streifen gemalt, und auf

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