Traumschlange (German Edition)
los.
Das Haupthaus wirkte bedrohlich im fahlen Licht des Mondes. Einem hungrigen Monster gleich belauerte es den Hof. Die langen Giebel des Daches warfen verzerrte Schatten in den Hof. Abby fühlte, wie ihre Knie bei dem Gedanken weich wurden, in dieses Gebäude einzudringen. Sie kauerte im Schutz eines wild wuchernden Busches, dessen intensiver Geruch ihr in die Nase stach und dachte darüber nach, wie sie ohne Werkzeug in das Haus gelangen konnte. Linda wurde hier gefangen gehalten. Aber wo genau? Das einstöckige Haus sah aus, als verfüge es über mehrere Zimmer. Linda konnte überall sein.
Abby schlich zur Haupttür. Abgeschlossen. Vielleicht gab es einen unversperrten Seiteneingang. Sie huschte zurück und umrundete das Haus. An der Rückwand stieß sie auf eine Kellertreppe, die in die Dunkelheit hinabführte. Sie erfühlte ein metallenes Geländer und stieg langsam die Stufen hinunter.
Unten herrschte vollkommene Finsternis. Das Licht des Mondes gelangte nicht hierher und eine künstliche Beleuchtung gab es nicht. Abby blieb nichts anderes übrig, als sich ihren Weg zu ertasten. Mit ausgestreckten Armen ging sie Schritt für Schritt weiter. Nach nur wenigen Metern erreichte sie eine Holztür. Ihre Finger entdeckten eine Türklinke. Vorsichtig schloss sich ihre Hand darum. Sie drückte die Klinke herab und die Tür glitt geräuschlos auf.
Abby hatte nicht gedacht, dass es im Haus noch finsterer sein konnte als draußen auf der Treppe, aber hier war die Schwärze von einer bleiernen Kraft, die auf ihre Seele drücken zu schien. Sie atmete tief durch. Als ihre Hände eine Wand erfühlten, tastete sie sich daran entlang.
Plötzlich ahnte sie eine Bewegung in der Dunkelheit, aber es war schon zu spät. Kaltes Metall presste sich in ihren Nacken.
Dann ging das Licht an.
Jean saß noch immer auf dem Boden des Zuckerrohrfeldes und malte mit den Fingern Bilder in den Staub, die er wegen der Dunkelheit nicht sehen konnte.
Hin und wieder nahm er das Blatt einer Pflanze in den Mund und lutschte daran. Er hatte großen Durst. Seine Zunge leckte über die aufgesprungenen Lippen, konnte sie aber nicht befeuchten, da sein Mund wie ausgetrocknet schien.
In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander von Bildern und Gedanken. Wie in einem Kino, in dem gleichzeitig mehrere Filme auf einer Leinwand gezeigt wurden, saß sein Verstand in der ersten Reihe und versuchte den Sinn des Ganzen zu entschlüsseln. Manchmal, wenn eines der Bilder nicht zu stark von anderen überlagert wurde, konnte er etwas erkennen.
Er sah seinen Vater, der groß vor ihm aufragte und mit ernster Miene zu ihm sprach, aber er verstand die Worte nicht. Das gütige Lächeln seiner Mutter blitzte auf, dann folgten Bilder aus seiner Studienzeit. Fast schien es, als wolle Jeans Verstand die vergangenen Ereignisse seines Lebens ordnen und wieder in die richtige Reihenfolge bringen. Die Betäubung der Droge, die man ihm auf dem Friedhof eingeflößt hatte, ließ unter der Einwirkung des Salzes langsam nach, aber noch war Jean nicht in der Lage, seine Situation zu beurteilen und danach zu handeln.
Durch die visuellen Eindrücke, die sein Geist in rasender Abfolge auf sein inneres Auge projizierte, bekam Jean Kopfschmerzen. Er presste beide Hände gegen den Schädel, aber der Schmerz ließ nicht nach. Seine Augen brannten hinter den geschlossenen Lidern. Und er hatte unendlichen Durst.
Wo war Abby?
Jean grübelte. Sie hatte etwas zu ihm gesagt, bevor sie gegangen war und ihn allein gelassen hatte. Was sie gesagt hatte, wusste er nicht mehr, er hatte es vergessen.
Ich muss Abby finden!
Durst!
Mein Kopf tut weh.
Abby. Abby. Abby.
Jean richtete sich auf und stolperte los.
„Dreh dich langsam um“, sagte die Stimme.
Unter dem Eindruck der plötzlichen, grellen Helligkeit hatte Abby die Augen geschlossen, aber sie erkannte sofort die Stimme. Patrick Ferre. Zögernd öffnete sie die Lider und wandte sich um.
Ferre stand vor ihr. Vollkommen angezogen. Sie hatte ihn also nicht durch ein Geräusch geweckt. Patrick hatte auf sie gewartet. In seiner Hand hielt er eine Waffe, deren mattschwarze Mündung bedrohlich auf ihre Brust zeigte.
Abby sah ihn an. Sein Gesicht wies zahlreiche Blutergüsse und eine tiefe Risswunde auf der Wange auf. Die Nase war gebrochen und glänzte violett im Licht der Kellerlampe. Patrick war unrasiert. Schwarze Stoppeln bedeckten sein Kinn. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, wirkten wie
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