Traumschlange (German Edition)
er es gewesen, der diesen Volltrottel eingestellt hatte.
Lambee winkte mit der Hand, um Garrie zu bedeuten, er möge sofort auf seinen Posten zurückkehren, aber dieser Nichtsnutz ging ungerührt auf ihn zu. Lambee fasste einen Entschluss. Es war höchste Zeit, seinem Untergebenen eine Lehre zu erteilen. Wehmütig blickte er auf das Bier in seiner Hand, dann warf er die noch halbvolle Flasche nach Garrie. Er verfehlte ihn um gut einen Meter, aber Garrie verstand die Botschaft und trottete zurück zum Tor. Lambee schüttelte noch einmal den Kopf über soviel Unverfrorenheit oder Dummheit, dann wandte sich ab und ging zurück ins Haus.
Abby seufzte erleichtert, als der Torwächter kehrtmachte und der andere Mann wieder im Haus verschwand. Beinahe hätte man sie erwischt. Die Folgen wagte sie sich nicht einmal vorzustellen. Da sie unbewusst den Atem angehalten hatte, verkrampften nun ihre Lungen. Abby spürte den kommenden Asthmaanfall und suchte in der Jackentasche nach ihrem Medikament, aber sie hatte den Inhalator unterwegs verloren. Wahrscheinlich war er beim Sturz vom Zaun unbemerkt aus der Tasche gefallen.
Jetzt bloß keinen Anfall, dachte Abby verzweifelt. Ich muss ruhig bleiben. Wenn ich mich aufrege, mache ich die Sache nur noch schlimmer. Abby schloss die Augen und bemühte sich kontrolliert zu atmen.
Tief ein- und ausatmen, befahl sie sich. Langsam löste sich die Verkrampfung in ihrem Brustkorb, aber Abby wusste, der Anfall lauerte nur auf eine weitere Gelegenheit.
Sie huschte zwischen den Schatten der Häuser, bis zu der Baracke, in der die Arbeiter schliefen. Es war ein lang gestrecktes, aus groben Holzplanken zusammengeschustertes Gebäude. Der ehemals weiße Lack blätterte von den Wänden. Sämtliche Fenster waren vergittert, aber die Eingangstür wurde nur durch einen einfachen Sperrriegel gesichert. Es gab ein knirschendes Geräusch, als Abby den Riegel zurückschob. Sie öffnete die Tür nur einen Spalt weit und schlüpfte ins Haus. Innen lehnte sie sich mit vor Aufregung pochendem Herzen an die Wand.
Der Geruch von ungewaschenen Körpern sprang sie regelrecht an. Es stank erbärmlich. Nackte Glühbirnen hingen an Kabeln von der Decke und spendeten schwaches, aber ausreichendes Licht. Abby sah sich um. Vor ihr standen in zwei Reihen einfache Feldbetten, auf denen die Arbeitssklaven lagen. Manche von ihnen stöhnten, andere wiederum schnarchten laut. Ab und zu wimmerte jemand. Es war eine unheimliche Atmosphäre. Abby hatte das Gefühl, sich in einem Leichenschauhaus zu befinden, nur dass die Toten hier sich in unruhigen Schlaf herumwälzten.
Wo war Jean? Ihre Augen fieberten die Bettreihen entlang, aber es war unmöglich ihn auszumachen. Sie musste die Betten einzeln kontrollieren.
Abby begann mit dem ersten Bett in der linken Reihe. Tief beugte sie sich über den Schlafenden. Es war eine Frau mit wirrem Kraushaar. Abby schätzte sie auf Anfang Dreißig. Auf den nächsten vier Liegen ruhten ausnahmslos Männer, aber Jean war nicht dabei. Danach folgten wieder zwei Frauen. Dann wieder acht Betten mit Männern. Sie wechselte die Reihe und arbeitete sich wieder den Gang entlang nach oben. Jean befand sich im drittletzten Bett.
Er hatte die alte Decke mit den Füßen zur Seite geschoben und lag in fötaler Stellung zusammengekauert. Abby kniete neben ihm zu Boden. Sein Gesicht lag direkt vor ihr. Sein warmer Atem strich über sie. Abby fasste ihn an der Schulter und rüttelte ihn sanft.
Nichts.
„Jean“, flüsterte sie in sein Ohr.
Er schlug die Augen auf, blickte sie verängstigt an.
„Ich bin es, Jean. Abby.“
Mitchard blinzelte heftig mit den Augen, dann öffnete er den Mund, um zu schreien.
Abby presste Jean die flache Hand auf den Mund. Zuerst wehrte er sich gegen die Berührung, aber dann beruhigte er sich. Die meisten Arbeiter schliefen ungerührt weiter, aber direkt neben Jean richtete sich eine ältere Frau im Bett auf und begann lauthals zu jammern. Ihr blieben nur noch Sekunden, bevor einer der Wächter nach dem Rechten sehen würde.
Abby rannte zu der Frau und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Ihre Laute verstummten abrupt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Abby an und sagte etwas auf kreolisch.
Abby drückte ihren Körper zurück aufs Bett und sprach leise auf sie ein. Ihre Augen fieberten immer wieder zum Fenster. Die Frau schloss zufrieden die Lider. Ihr gleichmäßiger Atem verriet, dass sie wieder eingeschlafen war. Stille herrschte im Saal.
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