Traumtagebuecher
auf der Rückseite über den Rand seiner Brille hinweg beäugte. Dann setzte er die Brille richtig auf und sein Blick wanderte von David zu mir. Und jetzt war das erwartete, selbstgerechte Gefühl doch da. Ich hatte Recht gehabt und Simons würde es aussprechen. David würde seinen Fehler einsehen – und dann, erst dann hatte ich endlich eine echte zweite Chance. Ich schloss die Augen.
»Das ist also die Uhr deines Großvaters?!« In Simons Stimme hatte sich eine Mischung aus Unglaube und Scham geschlichen. Anscheinend erinnerte er sich noch gut an den Tag nach meinem zehnten Geburtstag. Auch an den Part, wo er und Klaus mich als unbelehrbare Lügnerin abgestempelt und ins Erziehungsinternat für schwererziehbare Kinder gesteckt hatten. Ich nickte trotzdem.
»Ich werde eure Eltern informieren.«
Worüber? Darüber, dass ich damals die Wahrheit erzählt hatte? Dass mein mir beinahe unbekannter Großvater die Taschenuhr wirklich an meinem zehnten Geburtstag unbemerkt von Klaus und Meg als Geschenk neben das Bett gelegt hatte? Das Jonah sie mir wirklich gestohlen und mich über Nacht an einen lebensbedrohlichen Ort gesperrt hatte? Apropos Jonah …
»Was geschieht mit ihm?«
Ich brachte es nicht über mich, seinen Namen auszusprechen. Jetzt, wo alles ausgestanden war, konnte ich endlich mit damals abschließen – und in Zukunft würde es keinen schwarzhaarigen, blauäugigen Räuber mehr in meinem Leben geben.
Erst Simons langes Schweigen brachte mich dazu, die Augen wieder zu öffnen. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Noch bevor er sprach, wusste ich bereits, dass ich verloren hatte. Trotz allem. »Ich werde ihn für heute suspendieren und mir einige Strafaufgaben ausdenken.«
Als ich Einspruch erheben wollte, fuhr Simons fort: »Und du solltest daran denken, dass es nicht richtig ist, Leute zu nötigen und zu stehlen – auch wenn es ein Zurückstehlen ist. Wenn ein anderer Schüler dir etwas wegnimmt, musst du dich an einen Lehrer wenden. Oder an mich.« Wollte er mich verarschen? Offensichtlich nicht, denn er machte eine abwehrende Geste. »Nur wegen Jonahs erwiesener Schuld kann ich in deinem Falle Milde walten lassen.« Mir blieb der Mund offen stehen und die Taubheit in meinen Eingeweiden erstickte jede Beschwerde im Keim. Ein Patt! Ich konnte es nicht fassen! Der Typ hatte mich beinahe getötet!
»Ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist, aber mir fehlt jegliche rechtliche Handhabe.«
Schwer zu verstehen? Gar nicht zu verstehen! Ich knirschte beinahe mit den Zähnen. »Ich werde also zweimal bestraft? Einmal vor sechs Jahren, weil mir niemand geglaubt hat und jetzt, weil ich mit Jonah auf dieselbe Schule gehen muss?« Ich wusste nicht, ob ich angesichts dieser Ungerechtigkeit zuerst vor Ärger platzen oder vor Verzweiflung weinen sollte. Aber diese Genugtuung würde ich David nicht gönnen. Seine Anwesenheit war der einzige Grund, warum ich weder zusammenbrach, noch hysterisch wurde. Als konzentrierte ich mich auf die Wut angesichts meiner Machtlosigkeit. Das half fast immer.
»Es tut mir leid!«
Simons kam wieder um seinen Schreibtisch herum, aber ich konnte sein Mitleid nicht mehr ertragen. Sollte er es sich doch sonst wohin stecken. Interessierte doch eh keinen!
»War`s das dann?«
Ich gab mir Mühe, nicht zu aggressiv zu klingen. Allerdings sah ich auch nicht auf, schließlich wusste ich nicht, was ich sonst sagen würde. Manchmal war Vorsicht einfach besser. Denn auch ein fast immer endete irgendwann. Noch bevor Simons »Ja« ganz verklungen war, hatte ich den Raum verlassen. Fluchtartig.
Direkt hinter der Tür blieb ich stehen. Die Erkenntnis war wie eine kalte Dusche und kühlte die Wut schlagartig ab. Jonah hätte mich nicht so aufgelöst sehen dürfen! Erst zwei Atemzüge später fiel mir auf, dass er gar nicht mehr da war. Die Sekretärin auch nicht. Ich atmete tief ein und durch die gespitzten Lippen langsam wieder aus. Das Glück war mit den Doofen! Aber wo waren die anderen Doofen? In dem Büro gab es keine Möglichkeit sich zu verstecken. Es war übersichtlich, ordentlich, hell erleuchtet und gänzlich Jonah-frei. Ein großartiger Ort. Mit einer geschlossenen Tür.
»Sie funktioniert nicht.«
Ich zuckte zusammen und sah mich hektisch um. Doch es war niemand da. Die Stimme kam direkt aus einem kleinen Apparat, der neben dem Telefon stand. Simons Stimme. Die Sekretärin lauschte? Vor Schülern? Ich beugte mich näher, um besser verstehen zu können.
»Gott sei Dank!« David.
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