Traumtagebuecher
blätterte in einer Akte. Auch ohne die große Aufschrift auf der Vorderseite hätte ich sie sofort wiedererkannt. Sie war dick und zerfleddert und enthielt genug lose Zettel, um die Sekretärin einen Tag lang mit dem Abtippen zu beschäftigen.
»Soziale Defizite, kompensiert ihre Trauer mit Wut, antiautoritäre Tendenzen …«, zählte ich auf, »gibt es auch etwas Neues?«
Slater grinste und wirkte jetzt auch mit der Brille jugendhaft. »Sie haben es gelesen?«
»Ja, die Schlösser in Saint Blocks sind überraschend schlecht.«
Slater lachte. »Falls Sie meine Elisabeth de Temples-Akte lesen wollen, sagen Sie Bescheid. Sie haben jederzeit Einsichtsrecht.«
Woha!
»Aber wissen Sie … ich denke, die meisten Dinge werden sich jetzt ohnehin einrenken.« Irgendwann zwischendurch musste ich mein unlesbares Pokerface verloren haben, denn nach einem Blick auf mich fügte Slater hinzu: »Gucken Sie nicht so! Natürlich ist es schwierig. Sie haben Ihre Eltern verloren und waren zu Unrecht auf einem Internat , aber …«, er atmete tief ein, »es sind nur noch zwei Jahre. Was Ihnen jetzt schrecklich vorkommt, wird bald Vergangenheit sein. Sie haben Ihre ganze Zukunft noch vor sich.«
Slater klang so euphorisch, dass ich es beinahe selbst glaubte. Wie bei einem guten Werbejingle. Mit einem Blick auf die Uhr stand ich auf.
»Was machen die Albträume?«
Ich setzte mich wieder und starrte ihn an. Slater hatte es wirklich drauf. Den irren Patienten in Sicherheit wiegen und dann, wenn er am wenigsten damit rechnet, zuschlagen.
»Ich habe keine Albträume mehr«, log ich. Wir wussten beide, dass es nicht die Wahrheit war. Aber ich würde nicht den nächsten Zug machen.
Zum Glück hatte Slater weniger Hemmungen. Aber er wurde ja auch dafür bezahlt. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Er reichte mir ein Heft. »Führen Sie ein Traumtagebuch. Notieren Sie jeden noch so kleinen Traum, egal ob gut oder schlecht. Und falls Sie mit jemanden reden wollen … wir sehen uns eh jeden Tag.«
Er zwinkerte mir zu, und seine gute Laune brachte mich dazu, das Heft in der Hand zu drehen. Es wirkte wirklich unscheinbar und harmlos, machbar. Andererseits kannte es aber auch meine Träume noch nicht.
Kapitel 3
Die Tür zu meinem Albtraumleben öffnete sich verdächtig geräuschlos. Sie war genauso verdächtig hübsch, wie das ganze Haus.
»Ich bin wieder zu da!«, rief ich, während ich meine Jacke an die Garderobe hing und abfällig schnaubte. Als wenn es irgendjemanden interessieren würde, dass ich hier war.
Nichts. Die Stille im Haus war ohrenbetäubend und erinnerte mich daran, dass Tante Meg vermutlich gerade David beim Pool-Saubermachen beaufsichtigte. Schließlich war Montag.
Trotzdem ging ich auf Nummer Sicher, hetzte an den benachbarten Räumen vorbei zur Treppe, nahm zwei Stufen auf einmal, ignorierte Davids dicke Katze, die müde den Kopf hob, und sprintete hinauf in die zweite Etage, die ich mir mit den beiden Jungs teilte. Genaugenommen mit David und dem Gästezimmer, das Max eigentlich nur noch an den Wochenenden bewohnte. Dann stürmte ich in mein Zimmer. Erleichtert darüber, ohne ein Zeichen meiner Familie bis hierhergekommen zu sein, schloss ich die Tür hinter mir, ließ den Rucksack auf den Boden gleiten und mich auf das Bett fallen. Es war noch genauso pink und weich, wie vor sechs Jahren. Im Prinzip konnte ich jeden Morgen aufs Neue froh sein, dem Flauschiungetüm entkommen zu können. Wahrscheinlich hatte es – bevor es sich in mein Zimmer verirrt hatte – kleine Kinder gefressen. Gesichert war, dass sich in dem riesigen 3x3 Meter-Monster schon ganze Generationen verirrt hatten und immer noch in Decken und Kissenwäldern lebten. Vermutlich war hier drin auch irgendwo noch die 9te römische Legion. Auch mich sog es dieses Mal wieder in die Untiefen, und es dauerte einen Augenblick, bis ich mich hochgekämpft hatte. Das Pink war wirklich nicht das Schlimmste, aber diese weiche Matratze. Für jemanden mit erklärter Doraphobie war sie wie Folter pur! Angst vor Fell und Tierhaaren konnte man überspielen … aber wer bitteschön hatte zusätzlich Angst vor anderen fluffigen, flauschigen Dingen – oder zählte das Bett schon als Lebewesen?
Ich kickte meine Schuhe in die Ecke, und genoss einen Augenblick lang das Gefühl, ich könne sie dort einfach liegen lassen. Dann überkam mich meine Erziehung. Ich stand auf und räumte sie ordentlich in den kleinen, rosafarbenen Schuhschrank. Was hatte sich Tante Meg
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