Traumtagebuecher
gewesen war. Der Schmerz fräste sich durch ihren Körper, verband sich mit dem Bedürfnis einzuatmen und dem Wunsch, den Schatten ignorieren zu können, der schon die ganze Zeit geisterhaft durch das halbdunkle Wasser gewabbert war – vielleicht ein unheimlicher Todesbote, wahrscheinlicher ein Teil ihrer Einbildung.
Trotzdem brachte sie es nicht über sich, die Augen zu schließen, ihre Blicke hingen wie gebannt an ihm. Einem finsteren Boten des Jenseits gleich, hob er sich von der restlichen Dunkelheit ab und schien jegliches Licht aufzusaugen. Er glitt körperlos durch das Wasser, tänzelte durch die Kälte, als könnten ihm materielle Bedingungen nichts anhaben. In immer engeren Kreisen glitt er um das Mädchen herum. Doch es hatte sich vorgenommen, nicht zu schreien und den scheinbaren Spott den seine Fantasie nach außen projizierte, zu ignorieren. Schreien bedeutete atmen und atmen bedeutete den Tod. Und so verharrte es in der kalten Gewichtslosigkeit, obwohl der Schmerz der Narbe immer noch in seinem Körper pulsierte. Gleich würde es atmen müssen. Nein, nein, damit würde der Tod kommen! Nicht atmen. Nicht …
Als der Schemen durch die Haare der Kleinen strich und sie tatsächlich berührte – keine Einbildung – war es um ihre Willenskraft geschehen. Sie öffnete den Mund zu einem lautlosen Ruf, als die Auswüchse der Dunkelheit über ihre Haut strichen. Wasser strömte in ihren Mund. Sie schluckte das Wasser und …
Im nächsten Moment war einer der schwarze Schatten da, vor ihr, in ihr. Sie konnte ihn fühlen, warm und auf seltsame Weise lebendig. Er füllte ihren Mund, verdrängte das Wasser und seine Wärme setzte sich in ihr fort, prickelte über ihre Haut und verdrängte den glühenden Schmerz. Erst als ihre Nase zugehalten wurde, kehrte die Panik zurück. Ohne nachzudenken, schlug sie um sich, versuchte, von der Dunkelheit fort zu kommen, wandte sich und kämpfte gegen die finstere Umarmung, doch wie von stählernen Klauen wurde sie gehalten, etwas legte sich auf ihren Mund, Lippen … und plötzlich konnte sie wieder atmen. Seine Luft. Die Finsternis schloss sich noch fester um sie, die Berührung fühlte sich an wie Arme, doch ihre Augen sagten ihr etwas anderes. Es gab keine Haut, keinen Menschen, nichts Greifbares.
Und trotzdem war ihr warm, und trotzdem starb sie nicht, sondern konnte atmen. Von seinen Lippen. Es war gar keine Frage, sondern musste so sein. Wieder atmete sie seine Luft, versuchte aber dieses Mal vorsichtig, ihn mit der Hand zu berühren. Sie konnte sich nicht bewegen, die Arme nicht heben – vielleicht war sie doch tot – und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich halten zu lassen – und zu küssen. Und es war ein Kuss, ohne Zweifel, aber es war auch etwas anderes, eine Rettung. Als sie diese Gewissheit vollends realisierte, schmiegte sie sich an ihren unbekannten Retter. Die Wärme und sein Griff waren irgendwie tröstlich. Sie spürte, wie sich die Spannung in ihrem Inneren löste; die stummen Tränen, die sich mit dem kalten Wasser vermischten.
Nicht ein einziges Mal hatte sie in den letzten drei Monaten geweint und auch jetzt gab es keinen Kloß in ihrem Hals, kein Trauergefühl, nur Erleichterung.
Etwas strich kurz über ihre Wange, mitfühlende Finger, aber vielleicht bildete sich diese Geste nur ein, denn die Wärme des Schemens wurde heißer, auf unfassbare Weise intensiver. Sie strömte über ihre Lippen, in ihren Mund, füllte sie und zwang sich in ihren Körper. Sie war ein Gefäß, das gefüllt wurde, mehr und mehr, bis der Druck unerträglich wurde, ein Ventil suchte – und nicht fand.
Dann wurde es schwarz um sie.
Kapitel 1
Die Wut war so intensiv, dass sie förmlich in meinen Fingern kribbelte. Es fiel mir zunehmend schwerer, sie unter Kontrolle zu halten und einen gleichmütigen Gesichtsausdruck beizubehalten.
Ich hasste den Gang, die Schüler, die wie aufgeschreckte Hühner scheinbar planlos herumliefen, den Lärm der unzähligen Stimmen und sogar den Schlüssel, den ich in der Hand hielt. Er symbolisierte meinen persönlichen Alptraum für die nächsten Schultage, -wochen und vielleicht sogar Jahre. Normalität in Form eines eigenen Spinds.
Bei dem Gedanken an die vor mir liegende Zeit ballten sich meine Hände unwillkürlich fester um das gezackte Metall. Die Entspannungsübungen, die ich in den vergangenen sechs Jahren hatte lernen müssen, halfen nur geringfügig. Wahrscheinlich war ich schon außer Übung, weil ich heute nicht –
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