Traumzeit
wenige Tage entfernt lag. Joanna war entschlossen, dorthin zu gehen und die Antworten zu finden. Als sie am Bett ihrer Mutter gesessen und mit angesehen hatte, wie die schöne Lady Emily an einer rätselhaften Krankheit starb, dachte Joanna: Jetzt ist es vorbei. Mutter, deine jahrelangen Alpträume, die namenlosen Ängste – alles ist vorbei. Jetzt hast du Frieden.
Aber im Sanatorium, wo Joanna sich nach dem Tod der Eltern von dem Schock erholte, hatte sie einen Traum: Sie befand sich auf einem Schiff mitten auf dem Meer. Das Schiff lag in einer Flaute. Die Segel hingen schlaff an den Masten, und der Kapitän erklärte seiner Mannschaft, Wasser und Lebensmittel seien bedenklich knapp. Und im Traum hatte Joanna irgendwie gewußt, daß sie der Grund für diese Flaute war.
Sie war voller Entsetzen aufgewacht und hatte im selben Augenblick erkannt, was immer Lady Emily das ganze Leben über verfolgt haben mochte, war nicht mit ihr gestorben. Es war nun das Erbe ihrer Tochter.
Während Joanna hörte, wie die Matrosen sich in der Dunkelheit in die Riemen legten und versuchten, die
Estella
aus der Windstille zu schleppen, überkam sie plötzlich das Gefühl, sie habe keine Zeit zu verlieren. Die Dringlichkeit ihrer Aufgabe wurde ihr in aller Deutlichkeit bewußt. Es konnte kein Zufall sein – der Traum und das Schiff in der Flaute. Es war also doch etwas Wahres an den dunklen Geheimnissen, die ihre Mutter so gequält hatten. Joanna blickte in die Nacht und versuchte, sich den Kontinent vorzustellen, der nur wenige Tage entfernt lag: Australien! Dort warteten möglicherweise die Geheimnisse der Vergangenheit und die ihrer Zukunft.
2
»Melbourne! Der Hafen von Melbourne! Meine Damen und Herren, machen Sie sich bereit, von Bord zu gehen!«
Joanna stand mit den anderen Passagieren an Deck und sah, wie der Hafen von Melbourne näher kam. Sie wollte möglichst schnell von Bord und weg von der kleinen Kabine. Sie warf einen Blick über die Menschenmenge, die sich zur Ankunft des Schiffes am Kai versammelt hatte, dann hob sie den Kopf und betrachtete die nicht weit vom Hafen entfernte Silhouette der Stadt. Joanna fragte sich beklommen, ob sie dort hinter den Gebäuden und Kirchtürmen die Antworten finden würde, die ihre Mutter gesucht hatte. Vielleicht lagen sie auch irgendwo im Innern eines Landes, das für Tausende von Jahren nur von Nomaden, von den Aborigines, bewohnt worden war. Sie wünschte, das Herz wäre ihr in diesem Augenblick nicht so schwer gewesen.
Die Landungsbrücke wurde am Schiffsrumpf befestigt. Dann versammelten sich die Offiziere des Schiffs und verabschiedeten sich von den Passagieren. Als Joanna den Kopf hob und zum Himmel aufblickte, mußte sie sich an der Reling festhalten, so überwältigend war das strahlende Licht. Eine solche Kraft und Intensität hatte sie noch nicht erlebt – das war nicht die heiße, sinnliche Sonne Indiens, unter der sie aufgewachsen war, auch nicht das sanfte, dunstige Licht Englands, das sie als Kind erlebt hatte. Australiens Sonne war groß, stark und klar. Und Joanna empfand die grellen, durchdringenden Strahlen beinahe als aggressiv.
Sie entdeckte eine Gruppe Männer, dem Aussehen nach Arbeiter, die schnell die Gangway heraufstiegen. An Deck angelangt, griffen sie nach den Gepäckstücken und versprachen den Passagieren, ihnen die Sachen für nur einen oder zwei Penny an Land zu tragen. Ein junger Schwarzer näherte sich Joanna. »Ich mach’ das für Sie, Miss«, erklärte er und griff nach ihrem Schrankkoffer. »Ich verlange nur sechs Pennys. Wohin wollen Sie?«
Sie sah ihn mit großen Augen an. Es war ihre erste Begegnung mit einem Aborigine, einem der australischen Ureinwohner. Ihr ganzes Leben lang hatte sie von diesen Menschen gehört. »Ja«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Bitte bringen Sie mein Gepäck hinunter zum Kai.«
Der Mann packte den Griff an einem Ende des Koffers und hob ihn hoch. Er lächelte Joanna an. Dann verschwand sein Lächeln, und er musterte sie plötzlich eingehend. Seine Augenlider zuckten, er ließ den Koffer los und drehte sich auf dem Absatz um. Er griff nach dem Korb, mit dem sich eine ältere Frau abmühte. »Soll ich Ihnen den Korb tragen, Lady?« fragte er, und als die Dame nickte, folgte er ihr über das Deck und entfernte sich von Joanna.
Ein Träger der Reederei kam mit einem kleinen zweirädrigen Karren auf sie zu. »Darf ich Ihren Koffer an Land bringen, Miss?« fragte er.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie und
Weitere Kostenlose Bücher