Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

klinischer Aufsicht für eine Studie über Patienten mit rheumatoider Arthritis. Ich hoffe für ihn, dass er klinisch korrekt unter dem Syndrom leidet, sonst wird er des Honorars von 2.300 Euro nicht teilhaftig. Aber P. ist ein extrem anpassungsfähiger Mensch und wird auch die rheumatoide Arthritis hinkriegen, muss er doch nur an den Stellen seines Körpers, die für dieses Syndrom vorgesehen sind, Aua, ja da! sagen, rufen oder schreien, je nachdem.
    Die russischen Freundinnen Larissa und Olga sah ich nie wieder; auch weiß ich nicht, ob Passow jemals mit einem seiner Projekte reüssierte.

 
    102 Suncus etruscus, Alter unbekannt.
    Die Spitzmaus schickte ich Curtius, als ich hörte, dem Polarforscher gehe es schlecht und er leide unter Albträumen in seinem Zelt; mal suchten ihn Löwen heim, dann wieder Eisbären, einmal hatten Tausende von Lemmingen versucht, ihn zu ersticken.
    Das Telefongespräch mit Frau Horak war etwas verworren. Curtius leide unter Appetitlosigkeit, habe stark abgenommen und streite sich fortwährend als Dr. Knock mit Scott.
    Ich halte Curtius’ Zustand für eine binäre Signifikanz-Störung zwischen zwei Persönlichkeiten, sagte Anita, was das auch bedeuten mochte, ich stimmte sofort zu; Anitas Therapie-Ideen haben immer Format und eine gewisse Klasse, ich wollte den Patienten aber nicht im Stich lassen und schrieb ihm unter die Kopie der Spitzmaus als Briefkopf –
Mein lieber Franz,
Du bist große Tiere gewöhnt, wie Löwen und Eisbären; ich bin heilfroh für Dich, dass es in der Arktis oder Antarktis keine Elephanten gibt, Schlangen oder Kaffernbüffel.

Die Maus, siehe oben, wiegt nur zwei Gramm. Sie ist das kleinste Landsäugetier der Welt und ihre Anmut nicht zu übersehen. Der Stoffwechselumsatz ist immens; sie ist den lieben langen Tag in der Savanne auf Achse, um ihren maßlosen Appetit zu befriedigen. Ich sage Dir als erfahrener Kenner der Maus-Materie – nimm Dir an dieser Maus ein Beispiel.
Lieber Franz,
die Welt ist auch schön, wie einmal ein Theologe namens Thielecke äußerte, freilich ein Protestant. Das mindert die Qualität der Botschaft nur minimal.
Mein Brief soll Dir zeigen, wer Deine wahren Freunde sind in Zeiten der Not. Ich werde mich zurückziehen, habe noch eine kleine Exkursion zu alten Freunden und Bekannten vor. War lange Zeit nicht draußen und soll mich ‹Interaktionen› aussetzen, um meine allergischen Macken in den Griff zu kriegen, auch wenn sie zur akuten Migräne führen; es ist ein Experiment. Demokrit rät zu Wohlgemutheit und Epikur zu stoischem Verhalten im Weltverkehr, wie ich im Windelband nachlesen konnte. Aber ich habe nun etwas Geld, und Geld ist Freiheit.
Herzliche Grüße, Dein Arthur.
PS: Geh einmal in den Zoo, solltest Du Dein Refugium verlassen können – für Behinderte gibt es Rabatt, soviel ich weiß, lass Dich begleiten von Frau Horak – artigste Grüße bitte schön! Auch dem Künstler Borst. Betrachte dort, aber mit allen philosophischen Implikationen, die Raubtiere, die Löwen, die göttlichen Tiger, die Pumas und die Eisbären. Leider verfügt der hiesige Zoo nicht über Schneeleoparden (nur Basel), betrachte sie alle mit deinen inneren Augen, wirf den Spitzmaus-Blick (die Welt ist zum Fressen da), den Löwen-Blick (müde, müde, aber immer Appetit) und den Eisbären-Blick (ich will Eis), und alles wird gut. Denk immer daran: Deine inkohärente Paranoia wird Dich eines Tages knock-out schlagen.

 
    103 Hätte ich bloß die kleine Epistel über die Spitzmaus nicht ins Klepperzelt geschickt; Curtius hatte den Text ernst genommen und dann, während einer Mahlzeit (Ölsardinen und Broccoli wegen Skorbut-Abwehr), interpretiert. Therapeuten mit Format neigen zu Hyperinterpretationen. Ich kenne da Beispiele. Mein armer Patient gelangte zu dem Schluss, die etruskische Spitzmaus als solche, von mir beschrieben, sei sein spezielles Seelentier, und hieß die treue Anita Horak eines besorgen. Gottlob fand Borst in seinen Beständen noch eine ausgestopfte – in aller Feinheit präparierte – Spitzmaus, der nur die Schnurrhaare ausgefallen waren, kein eklatanter Mangel, als Seelentier allemal brauchbar.
    Leider gehen manche Leute weiter, als es die präventive Umsicht gestattet.
    Er wünsche, sagte Anita am Telefon, eine Reinkarnation als Spitzmaus, brach sofort das Zelt ab, und wir versuchten mit Borsts Hilfe, eine Savanne zu etablieren.
    Wie geht es ihm, fragte ich, hat er seine Nahrungszufuhr schon umgestellt?
    Herz- und Puls-Frequenz