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Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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Hospizes abstellte, brannte in den Bergen westlich der Stadt immer noch ein Buschfeuer, und der Himmel hatte sich senfgelb verfärbt. Bei dem Hospiz handelte es sich um ein zweistöckiges Gebäude, ein ehemaliges Motel, das jetzt sechzehn todkranken Patienten Platz bot. Hinter einem Tisch in der Eingangshalle saß eine philippinische Pflegerin namens Anna.
    »Gut, dass Sie da sind, Gabriel. Ihre Mutter hat nach Ihnen gefragt.«
    »Tut mir Leid, dass ich heute keine Doughnuts mitgebracht habe.«
    »Ich mag Doughnuts, aber sie machen dick.« Anna berührte ihren molligen Arm. »Gehen Sie jetzt gleich zu Ihrer Mutter. Ist ganz wichtig.«
    Das Pflegepersonal wischte andauernd die Fußböden und wechselte die Bettwäsche, trotzdem roch es in dem Gebäude nach Urin und verwelkten Blumen. Gabriel stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf und ging einen Flur entlang. Die Neonlampen an der Decke summten leise.
    Als er das Zimmer seiner Mutter betrat, schlief sie. Ihr Körper war nur noch ein kleiner Hügel unter einem weißen Laken. Bei jedem seiner Besuche im Hospiz versuchte Gabriel sich zu erinnern, wie er seine Mutter in der Zeit erlebt hatte, als Michael und er Kinder gewesen waren. Sie hatte gerne vor sich hin gesungen, wenn sie allein war, meistens alte Rock-’n’-Roll-Songs wie »Peggy Sue« oder »Blue Suede Shoes«. Sie liebte Geburtstage und jeden anderen Anlass für ein Familienfest.
Obwohl die Corrigans in Motels lebten, wollte sie jedes Jahr den Tag des Baumes oder die Wintersonnenwende feiern.
    Gabriel setzte sich ans Bett und nahm die Hand seiner Mutter. Sie fühlte sich kalt an, deshalb drückte er sie ganz fest. Im Gegensatz zu den anderen Patienten im Hospiz hatte seine Mutter weder ihre eigenen Kopfkissen noch gerahmte Fotos mitgebracht, um sich in der sterilen Umgebung heimisch zu fühlen. Ihr einziger Wunsch war gewesen, den Fernseher aus dem Zimmer zu entfernen. Seitdem lag das Fernsehkabel zusammengerollt auf einem Regalbrett und sah aus wie eine dünne schwarze Schlange. Michael ließ ihr jede Woche einen Blumenstrauß schicken. Die drei Dutzend Rosen, die er das letzte Mal bestellt hatte, waren schon fast eine Woche alt, und die abgefallenen Blütenblätter bildeten einen roten Kreis um die weiße Vase.
    Rachel Corrigan schlug langsam die Augen auf und schaute ihren Sohn an. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihn erkannte.
    »Wo ist Michael?«
    »Er kommt Mittwoch.«
    »Mittwoch ist es zu spät.«
    »Wieso?«
    Sie zog ihre Hand weg und sagte mit ruhiger Stimme: »Ich werde heute Abend sterben.«
    »Wovon redest du?«
    »Ich bin die Schmerzen leid. Ich will meine Hülle nicht mehr.«
    Die Hülle war die Bezeichnung seiner Mutter für den Körper. Jeder hatte eine Hülle, und sie enthielt ein klein wenig von dem, was sie Licht nannte.
    »Du bist gut bei Kräften«, entgegnete Gabriel. »Du wirst nicht sterben.«
    »Hol Michael her.«
    Sie schloss die Augen. Gabriel ging hinaus in den Flur.

    Anna stand vor der Tür, ein paar saubere Laken im Arm. »Was hat sie gesagt?«
    »Sie hat gemeint, dass sie heute sterben wird.«
    »Das hat sie mir auch gesagt, als ich vorhin zur Arbeit kam«, erklärte Anna.
    »Welcher Arzt hat Dienst?«
    »Chatterjee, der Inder. Aber er ist weggegangen, um zu Abend zu essen.«
    »Piepen Sie ihn an. Bitte. Sofort.«
    Während Anna nach unten ging, schaltete Gabriel das Handy für Privatgespräche ein. Er rief seinen Bruder an, und Michael nahm das Gespräch nach dem dritten Klingeln entgegen. Im Hintergrund waren Geräusche einer Menschenmenge zu hören.
    »Wo bist du?«, fragte Gabriel.
    »Im Dodger-Stadion. Ich habe Plätze in der vierten Reihe, nur ein paar Meter von der Home Base entfernt. Es ist fantastisch.«
    »Ich bin im Hospiz. Du musst sofort herkommen.«
    »Ich kann gegen elf da sein, Gabe. Vielleicht wird’s auch ein bisschen später. Wenn das Spiel zu Ende ist, fahre ich los.«
    »Nein. So lange darfst du nicht warten.«
    Gabriel hörte wieder die Geräusche der Menschenmenge und die leise Stimme seines Bruders, wie er sagte: »Entschuldigung … Entschuldigen Sie bitte.« Vermutlich war Michael aufgestanden und ging jetzt die Stufen zwischen den Sitzreihen hinauf.
    »Hör zu«, sagte Michael. »Ich bin nicht zum Spaß hier. Die Plätze haben mich ein Vermögen gekostet. Die Banker, die ich eingeladen habe, sollen mein neues Projekt zur Hälfte finanzieren.«
    »Mom hat gemeint, sie wird heute Abend sterben.«
    »Und was sagt der Arzt?«
    »Er ist zum Essen

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