Traveler - Roman
genau festgelegte Punkte im Gesicht eines Menschen. Der Computer verwandelte diese Digitalaufnahmen, deren Kombination ein unverwechselbares Bild ergab, in eine Zahlenkolonne, aus der ein Gesichtsabdruck entstand. Gefärbte Kontaktlinsen und eine Perücke konnten die äußere Erscheinung oberflächlich verändern, aber nur mit speziellen chemischen Substanzen war man in der Lage, die Scanner zu überlisten. Maya würde Steroide verwenden, damit ihre Haut und ihre Lippen aufquollen, oder Beruhigungsmittel, damit ihre Haut schlaffer wurde und sie älter aussah. Die Substanzen mussten vor der Kontrolle auf einem mit Scannern ausgerüsteten Flughafen in Wangen und Stirn injiziert werden. Jeder ihrer drei Notfallpässe erforderte eine unterschiedliche Dosis der Substanzen und eine unterschiedliche Abfolge der Injektionen.
Maya hatte einmal einen Science-Fiction-Film gesehen, in dem der Held es schaffte, einen Irisscanner zu passieren, indem er die Augäpfel eines Toten vor die Kamera hielt. Im wirklichen Leben war das nicht praktikabel. Irisscanner warfen einen roten Lichtstrahl auf das menschliche Auge, und die Pupillen eines Toten kontrahierten nicht. Die Regierungsbehörden behaupteten stolz, dass die Verwendung von Irisscannern eine absolut zuverlässige Identifizierungsmethode sei. Die einzigartigen Falten, Vertiefungen und Pigmentflecken der menschlichen Iris entwickelten sich schon im Mutterleib. Zwar konnte man einen Scanner durch lange Wimpern oder Tränen verwirren, die Iris selbst aber blieb ein Leben lang unverändert.
Thorn und die anderen Harlequins, die im Untergrund lebten, hatten sich schon Jahre bevor der Irisscanner bei Einreisekontrollen verwendet wurde, auf das Problem eingestellt. Sie zahlten Optikern in Singapur Tausende von Dollar für spezielle Kontaktlinsen. In ein biegsames Kunststoffblättchen
wurde die Struktur einer Iris eingeritzt. Wenn das rote Licht des Lasers auf die Pupille fiel, kontrahierte die Linse wie das menschliche Original.
Die letzte Hürde war der Fingerabdruckscanner. Man konnte durch Säure oder einen chirurgischen Eingriff Fingerabdrücke verändern, aber das Resultat war unumkehrbar und es blieben Narben zurück. Während eines Aufenthalts in Japan erfuhr Thorn, dass Wissenschaftler an der Universität von Yokohama Fingerabdrücke auf Trinkgläsern kopiert und daraus Gelatinehüllen für Fingerkuppen hergestellt hatten. Diese so genannten Fingerschilde waren allerdings sehr empfindlich und schwer überzustülpen. Zu Mayas Notfallpässen gehörte je ein Set dieser Schilde.
In einem der Kartons in dem Abstellraum fand Maya ein ledernes Necessaire mit zwei Spritzen und verschiedenen Substanzen, mit deren Hilfe sie ihr Äußeres verändern konnte. Außerdem Reisepässe, Fingerschilde, Kontaktlinsen. Es war alles Nötige vorhanden. Sie durchsuchte die anderen Kartons und stieß auf Messer, Pistolen und Bündel von Geldscheinen verschiedener Währungen. Außerdem ein unregistriertes Satellitentelefon, einen Laptop und einen Zufallszahlengenerator, etwa so groß wie ein Streichholzheftchen. Genau wie das Schwert war der ZZG ein unerlässlicher Teil der Ausrüstung eines Harlequins. Im Mittelalter hatten die Ritter, die für den Schutz der Pilger sorgten, Würfel aus Knochen oder Elfenbein bei sich gehabt, um sie vor einer Schlacht zu werfen. Heutzutage musste man nur noch auf einen Knopf drücken, und eine zufällig erzeugte Zahl erschien auf dem Display.
Am Satellitentelefon war ein zugeklebter Umschlag mit Klebeband befestigt. Maya riss ihn auf und erkannte sofort die Handschrift ihres Vaters.
Nimm dich im Internet vor Carnivore in Acht. Gib dich immer als Bürger aus und benutze unverdächtige Formulierungen.
Sei wachsam, aber nicht furchtsam. Du warst immer stark und einfallsreich, schon als kleines Mädchen. Jetzt im Alter bin ich nur auf eines in meinem Leben stolz – dass du meine Tochter bist.
In Prag hatte Maya nicht um ihren Vater geweint. Und während der Rückfahrt nach London musste sie sich einzig und allein auf ihr eigenes Überleben konzentrieren. Aber jetzt, hier in dem Abstellraum in Brixton, kauerte sie sich auf den Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ein paar Harlequins waren noch am Leben, aber genau genommen war sie auf sich allein gestellt. Wenn sie auch nur den kleinsten Fehler beging, würde die Tabula sie zur Strecke bringen.
NEUN
A ls Neurologe und Hirnforscher hatte sich Dr. Phillip Richardson verschiedener Techniken bedient, um die
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