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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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Tröpfchen flossen, dann war der Strom versiegt und die Wunde verschwunden.
    »Der Stahl lügt!« tobte er und rannte die Treppe zum Dachgarten hinauf, um sich hinabzustürzen.
    »Liva-Liva?« erklang Boromeos Stimme als er oben war. »Schon vergessen? Leben ist Bewegung!«
    Stocksteif und völlig gelähmt kippte Scheïjian nach hinten. Er lag auf den Fliesen des Daches und starrte in das wolkenlose Blau. Wenn man ihn hindern wollte, Tsa zu erreichen, dann war dies Beweis genug. Mühsam rollte er sich zur Dachkante und wälzte sich über den Rand.
    »Nicht tief genug!« urteilte er, nachdem er aufgeschlagen war, und machte sich auf dem Bauch schlängelnd an den langen Aufstieg zu einem geeigneteren Ort.
    Man könnte sagen, daß Jahre vergingen, bis er den unfaßbar weiten Weg zur schwarzen Spitze des Rabenfelsens zurückgelegt hatte, des Berges, der wie ein großer Vogel aussah. Doch da der Tag nie endete und die Jahreszeit nie wechselte, war der Weg einfach nur lang. Von der Spitze des Felsens, der schon so vielen das Ende der Welt bedeutet hatte, von der schon so viele zur höheren Ehre Borons gestoßen worden waren, ließ er sich hinabfallen. Und selbst wenn mich diese Tür nicht an mein Ziel führt, so doch irgendwohin! dachte er im Flug. Wasser spritzte auf. Er war nicht zerschmettert, er war einfach ins Meer gefallen. Bewegungsunfähig sank er nach unten. Das Wasser war völlig klar, nichts schwebte, nichts trübte. Warum nicht? dachte er und öffnete den Mund, um zu ertrinken. Das hereinströmende Wasser ließ ihn japsen und zappeln und beendete die Lähmung. Keuchend tauchte er auf und kroch ans Ufer. Der wäßrige Tod war ihm offenbar verwehrt. Er verließ die öden Klippen, stapfte in die leere Stadt, besorgte sich ein Seil, warf es über einen Mauervorsprung, zerrte es fest, kletterte an der Mauer hoch, steckte den Kopf in die Schlinge und stieß sich ab.
    »Das wird dir auch nichts nutzen!« behauptete eine Stimme, als er am Strang baumelte. Scheïjian strampelte, bis er sich in die Richtung gedreht hatte, aus der er die Worte gehört hatte.
    Mitten in Al’Anfa sah er den Lilienthron Tuzaks, wie er ihn sich immer vorgestellt hatte: vier Terrassen, jede Stufe von kleinen Säulen gestützt, geschmückt mit Lilienblüten aus Elfenbein, Alabaster und Perlmutt, überwölbt mit blattartigen spitzen Bögen, von denen Girlanden aus Einbeeren hingen, die Rückwand eine vollentfaltete Blüte. Ganz oben saß Borbarad der Grimme, der Dämonenherr, auf dem Haupt die Krone der Könige Maraskans. Scheïjian schnitt das Seil durch, an dem er hing, und da er gerade dabei war, sich selbst gleich noch die Kehle.
    »Ich allein kann dir helfen, denn ich entkam diesem Kerker!« versprach der Gekrönte.
    »Und deshalb kehrst du auch hierher zurück, wie? Sehr überzeugend, Dharzjinion Allvernichter! Außerdem habe ich doch erst begonnen«, antwortete Scheïjian und spuckte nach ihm. Die Gestalt auf dem Thron veränderte sich beträchtlich: Stachel bohrten sich aus Rücken und Schädel, gelbliche Würmer wedelten aus dem Mund wie die Ärmchen einer Seeanemone, die Augen wuchsen zu langen Stengeln, an deren Spitzen haarige braune Kugeln saßen.
    »Nun, willst du mich dafür nicht erschlagen? Habe ich es mir nicht verdient?« verhöhnte Scheïjian die widerwärtige Erscheinung. »Oder schlepp mich zu deinen Vasallen, an den Ort der ewigen Verzweiflung, damit ich von diesem grausigen Ort hier träumen kann, als dem schönsten, den es gibt, den Rur jemals schuf! Los, tu es, schenk mir diesen Traum und gib mir das Verlangen, zurückzukehren.«
    Die Erscheinung verschwand.
    »Er hat mich lange genug aufgehalten, der alte Schwätzer!« brabbelte Scheïjian und setzte seine besessene Suche nach Tsa fort. Er schluckte jedes Gift, das er fand, verschlang Glassplitter, Keramik und alles, was scharf war, schlug sich mit Säbeln, Äxten und Steinen, spießte, schlitzte, würgte, drosselte und zerquetschte sich, und noch während er sich auf die eine Art meuchelte, plante er schon gierig die nächste und die darauffolgende Methode. Er hatte keine Zeit für Verzweiflung, denn nur sein Tod würde ihn zu Tsa der Lebendigen führen, und solange es noch einen unerprobten Weg zu ihr gab, wollte er ihn beschreiten! Er hatte die Zähne in dieses furchtbare Geschick geschlagen, und er würde so lange daran rütteln und schütteln, bis es sich ergab. Als er sich gerade zum zweihundertachtundsechzigsten Mal vergebens selbst getötet hatte, verlor der

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