Treibgut - 11
Unwilliges Murren erhob sich, er verbeugte sich. »Verzagt nicht, mein hochgeschätztes Publikum. Ihr habt mich reichlich entlohnt, ich werde Euch nicht enttäuschen.« Abermals berührte seine feiste Hand Scheïjians Brust, und dieses Mal gelang der Zauber.
Es nutzte dem Opfer nichts, daß es wußte, was geschah und noch geschehen würde, denn von einem Herzschlag zum nächsten war das, was gerade noch existiert hatte, nicht mehr vorhanden und vergessen, gab es nur noch den wirklich gewordenen Traum …
Wo war er? Wie war er hierhergekommen? War er jemals an einem anderen Ort gewesen? Scheïjian orientierte sich: Ein kaltblauer sonnenloser Himmel spannte sich über der Stadt, er war zurück in Al’Anfa. Die Stadt schien leer zu sein, der Boden war knietief bedeckt mit grauem Staub, der wie eine dünnflüssige und doch träge Brühe unter seinen Schritten aufschwappte und gleich darauf wieder erstarrte. Kein Vogel flog am Himmel, kein Wind wehte, kein Geräusch war zu hören, nichts bewegte sich. Tausende leerer Fensterhöhlen schienen ihn genauestens zu beobachten, dunkle Türöffnungen wirkten einladend wie aufgerissene Rachen. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Bewegungen waren fahrig. Etwas wartete hier, das wußte er, und noch spielte es nur mit ihm, doch sobald er achtlos würde …
Er kämpfte gegen die aufsteigende Panik an: Wenn der Traumbruder beschlossen hatte, daß sein Tag gekommen war, dann könnte er nichts daran ändern, das war der Lauf der Welt! Ein seichter Trost. Mit einem unguten Gefühl trat er zu einem gelbblättrigen Strauch mit geruchlosen blauen Blüten und riß eine Gerte ab, eine vielseitige Waffe in kundigen Händen. Doch der Zweig zersplitterte ihm spröde zwischen den Fingern, und als Scheïjian wieder auf den Strauch blickte, sah er aus wie zuvor. Nichts hatte sich verändert.
Ein rastloses Drängen bestimmte seinen Weg, führte ihn dorthin, wo das Heim der Gordovanaz lag. Er durchschritt den unbewachten Eingang, ging über die Höfe zum verlassenen Sklavenhaus, das nie bewohnt worden war, schaute in Nestorios Kammer, in der nie jemand etwas an die Wand gemalt hatte, in den Geräteschuppen, den er nie mit jemandem geteilt hatte. Scheïjian erinnerte sich dunkel, daß er schon früher hier gewesen war, aber auch damals hatte er alles vorgefunden wie jetzt: leer und verlassen, nur bedeckt von tiefem grauflüssigen Staub, es hatte nie etwas anderes gegeben.
Er fühlte sich einsam und schrie kummervoll auf, aber der einzige Mensch der Welt hörte nicht einmal den eigenen Schrei. Gleichzeitig stieg eine Beklommenheit auf, die ihn davor warnte, auch nur noch einen einzigen Ton von sich zu geben. »Warum?« fragte er stimmlos in der Sprache Maraskans. »Niemand kann mich hören, nicht einmal ich selbst!« Dann schrei! befahl der Zwang, dann schweig! Schrei! Schweig! Schrei! Schweig! dröhnte es.
Er stürzte zum Herrschaftshaus, ohne zu wissen, weshalb, denn es würde genauso leer sein wie alles andere. Er täuschte sich, denn am Ende des langen Ganges, an dessen Wänden bilderlose Rahmen hingen, lag der Speiseraum. Er war um ein Vielfaches größer, als Scheïjian es in Erinnerung hatte, und ging über in einen blutroten Schlauch, der bis zum Horizont reichte. Hier warteten Boromeo, Marno, Alrisca und Sica. Sie lagen da, wie er sie verlassen hatte. Sie waren nicht tot, aber auch nicht lebendig. Sie waren völlig vertrocknet.
»Leiste uns Gesellschaft, Vielnamiger!« lud ihn Boromeo ein. Er wandte den Kopf, der immer noch auf dem Teller lag, und starrte ihn aus stumpfen Augen an.
»Bei der Schönheit der Welt!« ächzte Scheïjian.
»Schönheit?« spottete Marno vom Boden her und stieß ein glucksendes Lachen aus. Er nuschelte, da ihn der abgebrochene Dolch im Rachen behinderte.
Scheïjian stimmte ihm zu: die Welt war nicht schön.
»Komm her!« lockte Sica.
»Komm selbst!« forderte Scheïjian unsicher.
»Es ist nicht möglich, Tsa ist Bewegung!« erklärte Alrisca bissig.
»Wer ist Tsa?« fragte Boromeo.
»Wer ist Boron?« hallte Marno.
»Leben und Tod, Stillstand und Veränderung«, stammelte Scheïjian, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er hatte wohl bemerkt, daß sie sich veränderten, wenn er nicht hinschaute, auch wenn er nicht genau sagen konnte, wie dies geschah. Aber sie taten es. Sie waren darin nicht anders als der lange rote Schlauch am Ende des Raumes, der rhythmisch pulsierte, sobald er anderswohin blickte.
»Liva?« rief die vertraute Stimme.
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