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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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Zauber seine Macht über ihn.
     
    Schwach wie ein frischgeborenes Kitz erwachte er auf dem Tisch, es war Tag, er war allein, die Fesseln hatten tief in seine Gelenke eingeschnitten, er stank furchtbar. Seine völlige Kraftlosigkeit rettete ihm das Leben, da sie verhinderte, daß er unverzüglich mit dem fortfuhr, was er zuletzt getan hatte, wozu ihn sein noch lange verwirrter Geist womöglich erfolgreich getrieben hätte. Als sich der erste Schleier von seinem Verstand löste, hörte er neben sich ein tiefes Brummen. Mit großer Kraftanstrengung wandte er den Kopf zur Seite.
    Auf dem Tisch neben seinem Gesicht war ein Käfer gelandet. Scheïjian kannte seine Art nicht, und mühsam überwand er die angeborene Vorsicht eines Maraskaners gegenüber dem ihm unbekannten und möglicherweise giftigen Tier. Allerdings, so besann er sich, war er hier nicht zu Hause, hier waren die heimischen Käfer nicht bedrohlich. Er beobachtete das kleine Geschöpf. Seine Flügel waren grün-weiß gestreift, der restliche Körper glänzend rotbraun. Es hatte lange Bürstenfühler und Beinchen mit vielen spitzen Häkchen daran. Entschlossen unentschlossen krabbelte es auf dem Tisch, leise trippelnd. Wie zierlich es sich doch bewegte! War es nicht winzig, war es nicht gerade so klein wie Scheïjians erstes Daumenglied, so unendlich leichter und zerbrechlicher als er und doch voller Leben? Soviel Leben vereint in kaum mehr als der Spitze eines Daumens! Wie unvorstellbar!
    Nach dem vergangenen Alptraum erschien Scheïjian dieser kleine Geselle als das Allerschönste und das größte Wunder, das er jemals in seinem Leben gesehen hatte. Er weinte und schluchzte vor Freude und dachte: Tsa, wie gut erfüllst du deine Pflicht! Rur, welch strahlendes Geschenk hast du uns beschert! Sein Seufzen erschreckte den Käfer und ließ ihn davonfliegen. Scheïjian sah es mit Bedauern.
    Da es Tag war, flehte er zu Praios: »Sorgsamster Diener Rurs! Es ist allgemein bekannt, wie sehr es dich quält und schmerzt, auch nur einen halben Finger weit von Rurs Weisungen abzuweichen. Siehe, auch ich habe mich verpflichtet. Ich bin ausgezogen in dieses ferne Land, um Querinia das Unglück zu nehmen, das ich ihr bescherte. Auch wenn sie jetzt tot ist und alles sinnlos erscheint, so habe ich doch ihretwillen mein Wort gegeben. Laß mich nicht scheitern, laß mich nicht mit dem Eindruck verenden, daß eine der Fragen des Seins lauten könnte: Wo ist sein Sinn?«
    So bat und flehte er auf maraskanische Art, die manchen Geweihten des Praios als übelste Götterlästerung entsetzt hätte.
    Die Tür öffnete sich, und ein junger Kerl mit Frettchengesicht betrat den Raum. Angewidert betrachtete er die stinkende und wirr plappernde Kreatur auf dem Tisch, der Geifer aus dem Mund schäumte. Als er ihr nahe kam, kreischte sie ein letztes Mal zuckend auf und erschlaffte. Das würde ihm einiges an Arbeit ersparen.
    Er entfernte die Fesseln des Toten nacheinander von Händen und Füßen, wollte nach ihnen greifen, um den Körper vom Tisch zu zerren, als die Füße und Beine ungemein lebendig wurden. Erstaunt fiel er der Länge nach auf den eben noch sabbernden Körper, ohne recht zu begreifen, was da geschah und warum sich die Beine des anderen eng um seine Hüften schlangen.
    Einem unbefangenen Betrachter wären die aufeinanderliegenden Menschen auf dem Tisch wie das Bild zweier Liebender erschienen. Doch ein Bild ist ein Bild, es kann zur Wirklichkeit werden oder die Wirklichkeit ersetzen, doch in sich selbst hatte es nur so viel Substanz wie ein einzelner farbiger Streifen Lichts, das ein Prisma bricht, und dieses Bild würde nie etwas mit Rahja oder Tsa zu tun haben.
    Ein Schmerz schoß in den Rücken des Knechtes, als sich die umklammernden Schenkel des Mannes unter ihm in einen Schraubstock verwandelten und ihm die Nieren quetschten. Er versuchte, dem Schmerz durch ein jähes Aufbäumen zu entkommen, doch das verhinderten die Zähne des wiedererwachten Toten, die sich in seiner Gurgel verbissen hatten. Er war gefangen in zwei gegensätzlichen Arten der Pein, bei denen jeder Versuch, der einen zu entkommen, die andere verstärkte und die den Knecht blind machten, die ihn in Panik auf diese beißende, quetschende Klammer unter sich trommeln ließen, die ihn vergessen ließen, daß dieses Geschöpf mehr als nur zwei Beine hatte. Das Geschöpf namens Scheïjian brachte ihm diesen Umstand qualvoll in Erinnerung, als seine Hände ihm gleichzeitig auf beide Ohren klatschten und die

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