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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maren Schwarz
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hervor.
    Bevor jemand etwas erwidern konnte, ging ein leichtes Zittern durch ihren Körper und ihre Augenlider begannen zu flattern. Die Euphorie, die sie noch bis vor Kurzem versprüht hatte, war wie weggeblasen. Ihr Gesicht wechselte die Farbe so schnell, dass Henning befürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen.
    Schnell alarmierte Marlies zwei Pfleger, die Elena auf ihr Zimmer brachten, wo sich ein Arzt um sie kümmerte. Auch wenn es seiner Diagnose noch an gesicherten Befunden fehlte, ließ sein Mienenspiel erkennen, wen er für den Zustand seiner Patientin verantwortlich machte.

7
     
     
    Zwei Tage später war Weihnachten. Statt des erhofften Schnees stürmte es und goss in Strömen. Eine von Süden kommende Regenfront hatte die Straßen in spiegelglatte Fahrbahnen verwandelt. Trotz der zu erwartenden Verkehrsbehinderungen war Henning nach dem Frühstück zu seiner Schwägerin nach Hamburg aufgebrochen, um dort die Feiertage und den Jahreswechsel zu verbringen.
    Es war ein längst überfälliger Besuch gewesen: Ein Besuch, den er wegen der damit verbundenen Erinnerungen so lange wie möglich hinausgezögert hatte. Dabei hatte er die nach Armeezeit und Studium in der Hansestadt verbrachten Jahre lange als die erfülltesten seines Lebens betrachtet.
    In Hamburg angekommen, galt sein erster Weg wie immer dem Friedhof. Als er seine Schritte über den vom Regen aufgeweichten Boden zu Anouschkas letzter Ruhestätte lenkte, musste er daran denken, wie er sie auf einem der Hamburger Hafenfeste kennengelernt hatte. Mit ihr wollte er alt werden. Doch eine heimtückische Krankheit hatte ihre Pläne zunichte gemacht. Egal womit er sich in der Folgezeit abzulenken versuchte, Anouschka war immer präsent, verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Irgendwann war ihm klar geworden, dass er sein altes Leben hinter sich lassen musste, wenn er neu beginnen wollte. Er hatte Hamburg damals Hals über Kopf verlassen, doch es war ihm nicht gelungen, sie zu vergessen.
    Der Anblick ihres inzwischen stark verwitterten Grabsteins versetzte ihm jedes Mal aufs Neue einen schmerzhaften Stich.
    Obwohl er bezweifelte, dass es ihm den Verlust erträglicher gemacht hätte, bedauerte er, dass sie es immer aufgeschoben hatten, Kinder zu bekommen.
    Niemand hatte erwartet, dass eine in der Blüte ihres Lebens stehende Frau plötzlich an einem heimtückischen Krebsgeschwür erkranken und ein halbes Jahr später tot sein könnte. Bei dem Gedanken daran stahl sich eine Träne aus Hennings Augenwinkel.
    Trotzig wischte er sie weg. Er legte die mitgebrachten Blumen auf das mit Reisig abgedeckte Grab und trat gesenkten Hauptes den Rückweg zu seinem Auto an.
     
    Inzwischen waren zwei Wochen vergangen. Obwohl sich Elenas Zustand mittlerweile stabilisiert hatte, war sie Henning noch nie so zart und zerbrechlich erschienen. In ihrem Gesicht, aus dem ihm ihre dunklen Augen übergroß entgegensahen, hatten sich die Spuren einer ungesunden Mattigkeit eingegraben: Einer Mattigkeit, die gekennzeichnet war von zu wenig Schlaf und den Medikamenten, die sie jahrelang eingenommen hatte.
    Sein Anblick rang Elena ein schwaches Lächeln ab. Nachdem sie Platz genommen hatten, versuchte Henning anhand der bisherigen Erkenntnisse ein gerüstartiges Bild zu entwerfen. »Fassen wir doch mal zusammen: Wenn das Kind von der DVD tatsächlich Lea sein sollte, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie hat den Sturz überlebt – was ich mir jedoch nur schwer vorstellen kann. Oder aber, sie hat sich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Kinderwagen befunden.«
    »Genau das ist es, was mich so verrückt macht«, brach es aus Elena heraus. »Diese Ungewissheit. Sie lässt mich nicht mehr schlafen. Ich kann mich nicht konzentrieren, kann mich zu nichts aufraffen.«
    »Gibt es irgendjemanden, der ein Interesse daran haben könnte, Ihnen derart grausam mitzuspielen?«
    Statt einer Antwort schüttelte Elena nur müde den Kopf.
    »Denken Sie nach! Selbst die unbedeutendste Kleinigkeit kann von Belang sein und zur Aufklärung beitragen. Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir vertrauen.«
    Sein Appell schien Wirkung zu zeigen. »Also gut! Fragen Sie. Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß.«
    Henning zückte sein Notizbuch. »Was ist eigentlich aus den Bildern geworden, die Sie am Unglückstag aufgenommen haben?«
    »Die Fotos?«
    Henning konnte spüren, wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann.
    »Da muss ich nachsehen.« Sie schob den Stuhl zurück und erhob sich.

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